Words And Numbers

Kategorie: sonst (Seite 7 von 10)

Keine Weihnachtsgeschichte

Heute Nachmittag klingelte es an unserer Haustür. Draußen stand ein Mann, graue Haare, zerfurchtes Gesicht, abgerissene Jacke. Er fragte, ob ich vielleicht eine Kleinigkeit für ihn hätte.

Ich sagte: „Nein, tut mir leid.“ Und machte die Tür wieder zu. „Kein Problem, entschuldigen Sie die Störung“, hörte ich ihn gerade noch sagen. Dann zog er weiter.

Jetzt ärgere ich mich wahnsinnig über mich selbst. Wie kann man sich vier Tage vor Weihnachten nur so daneben benehmen? Das schlechte Gewissen kam schon nach ein paar Minuten. Ich bin dann raus auf die Straße und habe den Mann gesucht. Ich habe ihn nicht mehr gefunden.

Natürlich kann und will ich nicht jedem, der danach frägt, etwas von meinem Geld abgeben. Wahnsinnig viel habe ich davon auch nicht. Aber warum weise ich einen Mann, der an meiner Tür klingelt und um Hilfe bittet, so kalt und reflexartig ab? Warum frage ich ihn nicht mal, was ihm fehlt? Warum biete ich ihm nicht wenigstens eine Tasse Tee an? Oder einen verdammten Lebkuchen?

„Hausierern gibt man nichts“. Diese Regel ist in mir offenbar so tief verankert wie „Vor dem Essen wäscht man sich die Hände“ oder „Alten Leuten überlässt man seinen Sitzplatz.“ Warum eigentlich? Wer hat diesen Unsinn erfunden? Warum hinterfrage ich das erst, wenn die Tür schon wieder zu ist?

Wenn die EU-Grenzschützer hunderte Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen, wenn in Dresden tausende Vollidioten gegen Flüchtlinge auf die Straße gehen, wenn deutsche Waffen Unterdrückung und Krieg auf der ganzen Welt ermöglichen, kann ich kotzen vor Wut. Ich schäme mich regelmäßig für mein Land und meine Regierung.

Wenn ein armer Mensch vor meiner Haustür steht und um Hilfe bittet, bin ich kein Stück besser. Heute schäme ich mich für mich selbst.

Best of #BlueDot

Alexander Gerst ist zurück. Nach fast 166 Tagen auf der ISS ist der deutsche Astronaut heute Früh in Kasachstan gelandet. Als @Astro_Alex hat er in den letzten Monaten grandiose Fotos von der Erde gewittert, die er von der Raumstation aus aufgenommen hat. Hier sind meine Lieblingsbilder.

Baba, Wien!

Balkan Safari Ice Cream Index (BSICI)

In Dubrovnik zahlt man 30 Prozent Touri-Aufschlag.

In Dubrovnik zahlt man 30 Prozent Touri-Aufschlag.

Im September reisten Max und ich mit dem Rucksack durch Südosteuropa. Da es einerseits Sommer war, wir andererseits jedoch mit sehr geringem Budget unterwegs waren, haben wir relativ oft geschaut, ob wir uns eine Kugel Eis leisten könnenwollen. Irgendwann fing ich an, die Preise in mein Notizbuch zu schreiben. Und irgendwann erhielt das Projekt einen Namen: Balkan Safari Ice Cream Index. Kurz: BSICI. Als Nebenprojekt entstand der BSCBI, Balkan Safari Canned Beer Index.

Zurück von der Reise, habe ich die Daten mal in eine Tabelle geschrieben. Hatten wir aus einem Land mehrere Preise, ist der jeweils billigste in den Index eingeflossen, um Aufschläge für Touri-Hotspots (wie Dubrovnik) zu eliminieren.

Land Kugel Eis (EUR) 0,5l Bier (EUR) BIP pro Kopf (EUR)
HR 0,92 1,44 10.806,41
ME 0,50 1,00 5.691,54
AL 0,29 0,72 3.715,55
GR 1,50 1,09 17.499,52

Dann habe ich zu jedem Land das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf rausgesucht, und Google den Korrelationskoeffizient berechnen lassen. Das Ergebnis ist einigermaßen erstaunlich:

Zwischen unseren Eis-Preisen und dem BIP pro Kopf gibt es eine Korrelation von 0,999.

Wir haben ja keine auch nur annähernd wissenschaftliche Erhebung gemacht, wir sind einfach durch die Straßen geschlendert und haben ab und an geschaut, was das Eis so kostet. Aus Kroatien, Montenegro und Albanien hatten wir je zwei Werte. Am Ende wurden wir nachlässig, aus Griechenland gibt es nur eine Zahl (Athen).

Mit dem Dosenbier funktioniert es nicht so gut: Das korreliert nur mit 0,535 mit dem BIP pro Kopf. Eis und Bier korrelieren untereinander mit 0,541. Ein befreundeter Volkswirt hatte dafür auch sofort eine plausible Erklärung: „Dosenbier ist ja ein Suchtmittel, da kann man einkommensunabhängigere Preise setzen.“bsici_chart

Natürlich ist das totaler Quatsch. Natürlich lässt sich aus vier Datenpaaren keine brauchbare Statistik basteln. Lustig ist es trotzdem. Naja, nerd-lustig zumindest.

https://www.facebook.com/cendt/posts/10203962238829200

Das Spiel ist aus

Die WM ist vorbei. Während ganz Deutschland hyperventilierend über #Gauchogate diskutiert, macht sich ein chilenisch-französisches Architektenduo konstruktive Gedanken für die Zukunft. Konstruktiv ist bei Architekten natürlich wörtlich gemeint. Die Jungs haben sich überlegt, was man jetzt aus diesen Stadien machen könnte, die keiner mehr braucht. In vier von zwölf WM-Städten gibt es ja weder einen Erst- noch Zweitligaverein.

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Estádio Nacional in Brasilia – Simulation: 1week1project.org

Axel de Stampa und Silvain Macaux hatten die Idee, Wohnungen in die Stadionfassaden zu integrieren. In ihrem Konzept sind die Arenen weiterhin als solche nutzbar, schaffen aber eben auch neuen Wohnraum. Im Blog der Architekten haben sich bereits einige Brasilianer zu Wort gemeldet. Es wird unter anderem kritisiert, dass sich das Konzept auf alle zwölf Stadien bezieht, da acht davon ja weiterhin für Fußball genutzt werden. Außerdem seien die Wohnungen mit 105 Quadratmetern viel zu groß angelegt, die übliche Sozialwohnung in Brasilien habe 35 Quadratmeter. Auch technische Bedenken von Statik bis zu Brandschutz gibt es.

Die meisten Einwände sind sicher irgendwie berechtigt. Aber mir gefällt die Herangehensweise von Axel und Silvain. Ihr Blog heißt „1 Week 1 Project – spontaneous architecture„. Sie nehmen sich also jeweils eine Woche Zeit, um ein Konzept zu entwickeln. Sicher zu wenig, um allen Bedenkenträgern gerecht zu werden. Aber offensichtlich genug, um spannende Denkanstöße zu geben.

In einem anderen Projekt schlagen Sie vor, wie man Nordfassaden etwas Sonnenlicht schenken könnte – durch die Installation hübscher Spiegel an der gegenüberliegenden, nach Süden ausgerichteten Häuserwand. Keine Ahnung, ob das nicht blendet wie Hölle, aber der Gedanke ist interessant. Als Silvian heiratete, spielten sie ein bisschen mit dekorativen Luftballons herum.

via Greenality Movement

Entgoogeln

Meine persönlichen Konsequenzen aus Snowden, leider etwas spät

Letztens war hier recht ausführlich von Edward Snowden, der NSA und diesem ganzen Überwachungskram die Rede. Um diesem ganzen Reden auch ein wenig Handeln zur Seite zu stellen, möchte ich heute über die Dinge berichten, die ich in letzter Zeit gegen meine eigene Überwachung unternommen habe. Vielleicht hilft es jemamden, der sich auch ein kleines bisschen schützen möchte.

Die beiden wichtigsten Maßnahmen waren ein neuer Mail-Anbieter und das Einrichten von Verschlüsselungssoftware.

Bis vor kurzem war ich ein sehr aktiver Google-User. Ich habe nahezu alles, was ich im Netz so tue, über irgendwelche Google-Dienste erledigt. Surfen mit Chrome. Mail, Kontakt- und Terminverwaltung mit Gmail. Dokumente in Google Drive, Notizen in Google Keep. Google kooperiert nicht nur mit der NSA, sondern ist auch selbst ein sehr großer Datensammler. Keine Ahnung, was die damit tun. Die Summe an Daten, die ich ihnen geschenkt habe, wurde mir jedenfalls irgendwann zu groß.

Daher wechselte ich zu Posteo, einem Start-Up aus Berlin-Kreuzberg, gegründet von Ex-Greenpeaclern. Posteo blendet keine Werbung ein und handeln nicht mit Daten. Woher kriegen die dann ihr Geld?

Ja, Posteo kostet Gebühren. In der Basisvariante einen Euro pro Monat. Aber es gibt eine Regel: Wenn ein Service nichts kostet, bist du nicht der Kunde, sondern das Produkt. Gmail ist für dich kostenlos, weil Google deine Daten verkauft. Darum zahle ich gerne für meinen Mail-Anbieter.

Man kann das rein betriebswirtschaftlich sehen: Wie viel ist die Summe meiner Mail-, Kontakt- und Kalenderdaten wohl wert? Ist der Wert größer als zwölf Euro pro Jahr, mache ich mit Posteo ein gutes Geschäft. Sind es weniger, wäre Gmail ökonomisch sinnvoller. Ich kenne mich auf den Datenmärkten nicht gut aus. Persönlich habe ich jedenfalls das Gefühl, mich bei Google zu billig zu verkaufen.

Recht lustig ist der Transparenzbericht, den Posteo vor ein paar Wochen veröffentlicht hat. Darin steht, dass es 2013 sieben Anfragen von Behörden zur Datenherausgabe gab. Einmal wurden Daten herausgegeben. Einmal wurden Daten angefragt, die bei Posteo nicht vorliegen (es ging um Bankdaten; man kann anonym per Bargeld-Brief bezahlen). Fünfmal wurde die Anfrage abgelehnt, da sie „formal nicht korrekt“ waren. Viermal hat Posteo daraufhin Anzeige gestellt, u. a. wegen

Nötigung, Ermunterung zu rechtswidriger Kooperation, Missachtung geltenden Rechts, Anordnung einer Postfachbeschlagnahmung, Verkehrsdatenabfrage und TKÜ ohne ausreichende rechtliche Grundlage, Anordnung einer Durchsuchung bei Posteo ohne ausreichende rechtliche Grundlage.

Den Webmailer von Gmail fand ich so komfortabel, dass ich unter Windows gar keine eigene Mail-Software installiert hatte und alles im Browser gemacht habe. Der Posteo-Webmailer ist auch in Ordnung, reicht aber nicht an Gmail heran. Darum habe ich mir jetzt wieder Thunderbird installiert, mit dem Add-On Lightning für den Kalender. Mit dieser Lösung bin ich sehr zufrieden.

Das alles auch mobil, auf meinem Android-Telefon, zum Laufen zu bringen, war etwas aufwändiger. Statt der üblichen Google-Apps nutze ich aktuell K-9 Mail und Cal, beide sind super. Zum Datenabgleich mit den Posteo-Servern braucht man die kostenpflichtige Zusatzapp DAVdroid. Wie das genau funktioniert, wird bei Posteo super erklärt. Nach der Einrichtung auch hier volle Zufriedenheit.

Den Chrome-Browser habe ich auf allen Geräten wieder durch Firefox ersetzt. Mozilla hat in der Zwischenzeit deutlich aufgeholt. Die Sync-Funktion, mit denen ich Tabs und Lesezeichen zwischen Notebook und Telefon austausche, funktioniert mitterweile besser als bei Chrome, so mein Eindruck.

2013-11-24 23.46.03Google Drive nutze ich nur noch für einige Dokumente, die ich gemeinsam mit anderen bearbeite. Alles andere erstelle ich in OpenOffice und speichere es auf meiner Festplatte in der Dropbox. Das ist gerade noch eine Baustelle: Nach einem europäischen Cloud-Anbieter muss ich mich noch umsehen (Hinweise gerne!). Für Notizen nutze ich derzeit Stift und Papier. Manchmal sende ich mir selbst E-Mails mit Links und Erinnerungen.

Heute, zur Feier des Jahrestages der Snowden-Enthüllungen, habe ich endlich eine Verschlüsselungssoftware auf meinem Rechner eingerichtet. Jetzt kann ich PGP-verschlüsselte Mails schreiben und empfangen. Geholfen haben mir dabei diese Anleitung von Patrick Beuth und die Software GPG4win samt ausführlicher Anleitung. Hier steht mein öffentlicher Schlüssel.

Verwandte Beiträge:

Der Zauberwürfel von Edward Snowden

Glenn Greenwald: No Place To Hide

In „No Place To Hide“ von Glenn Greenwald steht kaum etwas Neues. Wer die Snowden-Enthüllungen ein bisschen verfolgt hat, kennt den Inhalt schon. Lest es trotzdem.

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Das Buch (deutsche Ausgabe: „Die globale Überwachung“) beginnnt mit einer Nacherzählung von Greenwalds Zusammenarbeit mit Edward Snowden. Die ersten beiden Kapitel, „Contact“ und „Ten Days in Hong Kong“, sind relativ kurz und spannend wie ein Thriller. Sie handeln von zwei Männern und einer Frau, die für das Gute kämpfen und vor bösen Agenten fliehen. Wäre das sein Spielilm, man würde manche Details für überzogen und unglaubwürdig halten. Etwa wenn Greenwald seine Begleiterin Laura Poitras beim ersten Treffen fragt, woran sie Snowden erkennen würden, und diese antwortet: „He’ll be carrying a Rubik’s Cube.“ Einige Minuten später steht Snowden dann vor ihnen, in der Hand einen Zauberwürfel. Sie gehen auf sein Hotelzimmer, stecken ihre Handys in den Kühlschrank und legen Kissen vor den Türspalt. Dann beginnen Greenwald, Poitras und Snowden mit der Arbeit an den NSA-Dokumenten.

Deren Inhalt behandelt das umfangreichste Kapitel, „Collect It All“. Darin beschreibt Greenwald, wie die NSA-Überwachungsprogramme funktionieren. Das ist eine Zusammenfassung der Enthüllungen, die seit Juni 2013 nach und nach veröffentlicht worden. Dieser Abschnitt ist mit vielen Originaldokumenten aus dem Snowden-Fundus, großteils Powerpoint-Folien, viele davon stümperhaft zusammengebastelt. Der Verlag bietet alle im Buch abgebildeten Dokumente frei zum Download an.

Ein wichtiger Bestandteil ist die Zusammenarbeit mit den großen amerikanischen Internet-Firmen Google, Facebook, Yahoo!, Microsoft und Apple. Die gewähren der NSA umfangreichen Zugriff auf ihre Datenbanken. In Amerika produzierte Router, etwa von Cisco, werden vor dem Export von der NSA abgefangen und mit Spionagetechnik ausgerüstet. Der britische Geheimdienst GCHQ zapft Unterseekabel an.

Viel Raum widmet Greenwald der Frage, was die Geheimdienste mit ihrer Überwachung bezwecken. Die wichtigste Erkenntnis: Es geht nicht um Terrorismus. Ein winziger Teil der Datensammlerei dient vielleicht tatsächlich dem „Krieg gegen den Terror„. Über diese Programme wurden Parlamente und Öffentlichkeit von Anfang an halbwegs informiert. Durch die vorher geschürte Angst vor Anschlägen ist eine gewisse Akzeptanz vorhanden.

Leider bringt die ganze Überwacherei nichts – sie verhindert keine Terrorattacken. Greenwald zitiert diese entlarvende Passage aus einem Gastbeitrag dreier US-Senatoren in der New York Times:

The usefulness of the bulk collection program has been greatly exaggerated. We have yet to see any proof that it provides real, unique value in protecting national security. In spite of our repeated requests, the N.S.A. has not provided evidence of any instance when the agency used this program to review phone records that could not have been obtained using a regular court order or emergency authorization.

Die Überwachung hilft nur nicht dabei, die Welt sicherer zu machen. Sie macht die Welt unsicherer. Denn die Schlupflöcher, die für die Geheimdienste in unsere Kommunkationssysteme eingebaut werden, stehen auch anderen offen.

Aber wie gesagt, um Terrorabwehr geht es eh nicht so wirklich. Die Spionage richtet sich ebenso gegen profane Kriminalität, etwa Drogenhandel. Außerdem dienen die NSA-Programme der politischen und Wirtschafts-Spionage. So wurden etwa im Vorfeld von Gipfeltreffen andere Regierungen ausgespäht, um deren Verhandlungsstrategie auszukundschaften. Auch das Handy von Kanzlerin Merkel steht bekanntlich auf der Liste. Der brasilianische Ölkonzern Petrobas war ebenfalls Ziel der Überwachung.

Der allergrößte Teil der Überwachung geschieht allerdings völlig ohne Grund. Einfach, weil sie’s können. Greenwald schreibt:

Some of the surveillance was ostensibly devoted to terrorism suspects. But great quantities of the programs manifestly had nothing to do with national security. The documents left no doubt that the NSA was equally involved in economic espionage, diplomatic spying, and suspicionless surveillance aimed at entire populations.

[Seite 94]

Oder, wie es Ex-NSA-Chef Alexander ausdrückt: „Collect it all.“

Im Kapitel „The Harm Of Surveillance“ begründet Greenwald, warum Überwachung gefährlich ist. Es gehört zu den großen Seltsamkeiten im Zusammenhang mit den Snowden-Enthüllungen, dass man das immer noch, immer wieder erklären muss. Dass man immer noch an jeder Ecke den Satz hört: „Ich habe nichts zu verbergen.“


Diese Behauptung stimmt fast nie, wie eine aktuelle ZDF-Doku zeigt. Aber selbst wenn, ist sie Quatsch. Klar, wer brav jeden Tag zur Arbeit geht und am Sonntag in die Kirche, wer sein Kreuz in einem der ersten beiden Felder macht und sich sonst aus Politik heraus- und seine Meinung für sich behält, der hat erstmal nicht so viel zu befürchten. Dennoch ist er mitbetroffen, wenn die Freiheit von Journalisten, Oppositionellen, Aktivisten, Andersdenkenden eingeschränkt wird. Denn dann geht die Freiheit der Gesellschaft vor die Hunde. Zum Beispiel ist in Deutschland die Skepsis gegen das Freihandelsabkommen TTIP weit verbreitet. Aber nur eine handvoll Leute engagieren sich dagegen. Eine davon ist Maritta Strasser, der kürzlich die Einreise in die USA verweigert wurde. Greenwald schreibt den eigentlich trivialen Satz:

The true measure of a society’s freedom is how it treats its dissidents and other marginalized groups, not how it treats good loyalists.

[Seite 196]

Ein weiteres Problem ist, dass vor allem Leute jenseits der Vierzig (und die sitzen an den Machtpositionen) das Internet immer noch irgendwie für ein Spielzeug halten und dessen Bedeutung für unsere Welt maßlos unterschätzen. Das ist ein Irrtum. Sascha Lobo sagte kürzlich in einer Rede:

Es geht nicht mehr um Internet-Überwachung, es geht um Welt-Überwachung mit dem Internet.

In einer funktionierenden Demokratie sollte es so sein, dass die Bürger ein Recht auf Privatsphäre haben, die Handlungen des Staates aber für alle transparent sind. Dieses Verhältnis ist inzwischen fast vollständig umgekehrt. In Amerika, aber auch in Deutschland.

Im Epilog schreibt Greenwald von Ed Snowdens großer Sorge: Nämlich, dass sich keiner so recht für seine Enthüllungen interessiert und alles umsonst gewesen ist. Dies sei glücklicherweise nicht eingetroffen.

An dieser Stelle kann ich nicht ganz mitgehen. Klar, die Snowden-Enthüllungen haben riesige Aufmerksamkeit erhalten, haben das Thema Überwachung in den Medien sehr viel präsenter gemacht. Auch politisch tut sich was. In den USA arbeitet der Kongress an einem Gesetz, das die Geheimdienste in ihre Schranken weisen soll. In Deutschland hat ein parlamentarischer Untersuchuchungsausschuss die Arbeit aufgenommen. Aber das US-Gesetz wird in den Ausschüssen bis zur Nutzlosigkeit aufgeweicht. Der U-Ausschuss wird wahrscheinlich folgenlos bleiben wie die meisten vor ihm.

Vor allem aber ist der Bevölkerung das ganze Thema weitgehend egal. Auf persönlicher Ebene passiert nichts, um sich vor Überwachung zu schützen. So ist mein Wechsel von WhatsApp zu Threema gescheitert, da kaum jemand mitgegangen ist. Bei der Bundestagswahl wurden die Parteien wiedergewählt, denen Datenschutz egal ist. Die Piraten sind tot. Auch die Grünen, die mit Ströbele zumindest eine glaubwürdige Spitzenfigur haben, die sich gegen Überwachung engagiert, haben Stimmen verloren. Und so etwas wie wirklicher Protest oder eine Bewegung gegen die unkontrollierte, grenzenlose Macht der Geheimdienste ist weit und breit nirgendwo zu erkennen.

Snowden und Greenwald haben das Thema Überwachung zum Gesprächsthema gemacht. Das ist gut und wichtig. Ihre Enthüllungen sind eine journalistische Meisterleistung und eine bürgerrechtliche Heldentat. Trotzdem sieht es danach aus, als würde sich nichts ändern und die Überwachung weitergehen wie bisher.

Ich denke, es ist ein guter Anfang, dieses Buch zu lesen. Auch wenn nicht viel neues drinsteht. Man kann das Ausmaß dieser ganzen Geschichte so oder so nicht fassen. Aber sie so systematisch, an einem Stück und aus erster Hand erzählt zu bekommen, hilft dabei, ein Gefühl für den Irrsinn zu entwickeln.

„Ich will keine neue Weltordnung – ich will nur ’nen Fleck in dieser“

Broilers – Ich will hier nicht sein

In diesem Posting kommen zwei Themen zusammen, für die ich mich sehr interessiere und die in diesem Blog schon öfter Thema waren: Punkrock und Asyl. Die Düsseldorfer Punkband Broilers hat einen Song über die Schicksale von Flüchtlingen geschrieben. Das Video zu „Ich will hier nicht sein“ feierte gestern Premiere, und die Kombination aus Text, Musik und Film ist wirklich bewegend. Es geht um Menschen, die in ihrer Heimat nicht bleiben können:

Von dem was ich hatte
blieb nur der Rauch.

Die aber auch an ihrem neuen Wohnort unerwünscht sind.

Das was ich damals lernte,
das was ich weiß,
ist hier vollkommen ohne Bedeuteung
hier sind alle gleich.
Gleich wenig willkommen,
gleich wenig beliebt.
Gleichermaßen umkämpft,
ein bisschen wie im Krieg.

In der dritten Strophe äußert der Protagonist einen bescheidenen Wunsch:

Ich will keine neue Weltordnung – ich will nur ’nen Fleck in dieser.

Durch widerkehrende „Wuhuuhuu“-Chöre wirkt „Ich will hier nicht sein“ hymnisch und leicht, trotz des traurigen Themas.

Der Song wird im Video immer wieder runtergepegelt, um kurzen Statements von Flüchtlingen Raum zu geben. Diese wurden nach Angaben der Band in Berliner Flüchtlingsheimen aufgenommen.

Mehr zum Thema Flucht und Asyl:

Die neue presstige: Ausgabe 26 über Macht

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Heute erschien die neue und 26ste Ausgabe von presstige, dem Augsburger Hochschulmagazin. Es widmet sich schwerpunktmäßig dem Thema Macht. Ich durfte wieder als Teil der Chefredaktion mitarbeiten. Es ist eine wahnsinnig spannende Erfahrung, die Entstehung so eines Magazins komplett mitzuerleben. Vom ersten Brainstorming, über die Themenplanung, Recherche bis zur Endredaktion steht sehr, sehr viel Arbeit dahinter. An dieser Stelle einen großen Dank an das gesamte Team, allen voran an Petra, Natalia und Jan. Mit euch hat es immer Spaß gemacht. Ihr rockt!

Hier kann man die digitale Ausgabe durchblättern:

Bei den Seestadt-Piraten

Inspiriert von einigen Bildern des Fotografen Dennis Iwaskiewicz, fuhr ich gestern mit der Wiener U-Bahn-Linie Zwei bis zu deren Ende, der Haltestelle „Seestadt“. Die Fahrt dauert vom Rathaus fast eine halbe Stunde und führt zeitweise fernab jeglicher Urbanität an blühenden Rapsfeldern vorbei.

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Ihrem Ziel nähert sich die Bahn in einem großen Halbkreis durch sumpfiges Brachland. Dann rücken die Kräne immer näher.

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Die Seestadt Aspern liegt auf dem Gelände eines ehemaligen Flugplatzes. Rund um einen künstlich angelegten See soll hier in den nächsten Jahren ein neues Stadtviertel mit 20.000 Wohnungen und 15.000 Arbeitsplätzen entstehen.

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Das Projekt ist eine Antwort auf das rasante Bevölkerungswachstum in Wien. In den nächsten zwanzig Jahren wird ein Plus von 300.000 Einwohnern erwartet, das entspricht der Größe von Österreichs zweitgrößter Stadt Graz.

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Die Jungs mit dem Floß erinnerten mich an ein paar Kerle, die ich vor zwei Jahren, ebenfalls am Ostermontag, in Neapel fotografiert habe.

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Bei der Bearbeitung dieser Fotos habe ich auf Empfehlung von Petra erstmals die Software Photoscapeeingesetzt. So ganz beherrsche ich die Funktionen noch nicht, außerdem habe ich hier und da vielleicht etwas übertrieben, was die Effekte angeht.

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Ganz interessant ist übrigens auch der stadtplanerische Hintergrund des Seestadt-Projekts. Das Problem an solchen Planvierten am Stadtrand ist ja, dass sie meistens komplett tot sind, weil die Leute da nur zum Schlafen hinfahren. In Wien hat man sich einige Gedanken gemacht, wie aus der Seestadt ein belebtes Viertel mit Leben auf den Straßen werden kann. So sollen etwa große Teile der Erdgeschoss-Flächen an Geschäfte und Lokale vergeben werden. Vorbild ist unter anderem die Hafencity in Hamburg. Das Konzept lässt sich in einem Dokument mit dem schönen Namen „Partitur des öffentlichen Raums“ nachlesen.

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Wer mag, kann diese Bilder auch in einer Dia-Show betrachten.

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