Teil zwei meines Reiseblogs aus China

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Um fünf Uhr morgens klingelt mein Wecker. Leise schleiche ich aus dem Zimmer, in dem noch zwei Chinesen schnarchen. Am Vorabend habe ich zwei Liter Leitungswasser abgekocht, Kekse und Snickers gekauft. Das im Rucksack, trete ich auf die schmale Gasse, in die gerade das erste Licht des Tages fällt.

Auf der Hauptstraße ist schon einiges los. Vor allem Mofas und dreirädrige, als Kleintransporter dienende Motorräder sind unterwegs. Ein Straßenkehrer mit schmutzigem, zerfurchtem Gesicht fegt den Fußweg. Zuerst klappere ich ein paar Banken ab, bis ein Geldautomat meine Visa-Karte akzeptiert. Dann gehe ich zur U-Bahn und fahre zum Busbahnhof. Bus 980 fährt knapp zwei Stunden, die ich großteils verdöse, über leere Autobahnen.

In Miyún steige ich auf einer staubigen Seitenstraße aus. Da die richtige Buslinie im Reiseführer stand und Miyún als Endhaltestelle kaum zu verfehlen war, lief die Wegfindung bisher problemlos. Jetzt muss ich irgendwie meinen Anschlussbus suchen. Anders als in Peking sehe ich hier kein einziges englischsprachiges Schild.

Erstmal umringen mich allerdings ein Dutzend Leute, allesamt so staubig wie die Straße. Manche wollen einfach nur Hallo sagen; hier kommt wohl nicht oft ein Europäer vorbei. Die meisten wollen dann aber doch irgendetwas verkaufen, zum Beispiel eine Taxifahrt in ihrer alten Karre. Dem am wenigsten Aufdringlichen kaufe ich Weintrauben und einen weiteren Liter Wasser ab. Die Sonne brennt schon morgens um acht gnadenlos vom wolkenlosen Himmel.

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Auf meinem Handy habe ich Nummer und Zielort meines nächsten Busses aufgerufen; ich halte es den wenigen Leuten, die kein geschäftliches Interesse an mir zu haben scheinen, unter die Augen. Auch wenn sich die angezeigten Richtungen gelegentlich unterscheiden, finde ich schließlich die Haltestelle. Unterwegs muss ich weitere Händler und Taxifahrer abschütteln und eine sechsspurige, stark befahrene Straße ohne Ampel überqueren.

Der Bus kommt nach einer halben Stunde, die ich mit Hand-und-Fuß-Gesprächen mit den Mitwartenden verbringe. Schon in Peking habe ich nur wenige Westler getroffen; dort gab es aber jede Menge innerchinesischer Touristen. Hier draußen scheine ich als weit und breit Einziger zum bloßen Vergnügen aus reiner Neugier durch die Gegend zu streunen.

Die zweite Busfahrt fällt deutlich holpriger aus als die erste. Wir fahren jetzt über kurvige, schlecht asphaltierte Straßen durch hügelige, von dichtem Gestrüpp bewachsene Landschaft. Sobald irgendwo zwei oder drei Häuser stehen, halten wir an. Auf Wink eines alten Mannes, dem ich zuvor meinen Zielort Gubeikou genannt habe, steige ich nach einer guten Stunde aus.

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Ich stehe auf einer sandigen Piste. Am rechten Straßenrand steht ein kleines Restaurant. Die Tische sind alle sorgfältig gedeckt, aber niemand sitzt darin. Ein Stück weiter vorne liegt ein kleiner Marktplatz, wo vor allem Obst, Gemüse und frisch gebackene Pfannkuchen verkauft werden.

Links der Straße liegt ein kleiner Park. Zwei Frauen knien im Gras und rösten auf glühenden Kohlen ein paar Maiskolben. Auf einer flachen, weißen Steinbrücke überquere ich einen breiten, braunen Fluss. Dahinter sehe ich eine dicht bewachsene Hügelkette und darauf die Überreste der Großen Chinesischen Mauer.

Die nächsten Stunden werde ich diese Mauer entlang gehen. Ein schmaler Pfad führt manchmal neben dem Verteidigungswall, manchmal oben auf selbigem. Manche Mauerabschnitte, vor allem die nahe an Peking gelegenen, sind inzwischen renoviert und ein viel besuchtes Ausflugsziel. Das Stück hier bei Gubeikou dagegen ist nicht renoviert und an vielen Stellen ziemlich verfallen. Dafür werde ich den ganzen Tag kaum einen anderen Menschen treffen.

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Nach vier Tagen in Peking ist das eine Wohltat. Vor meiner Abreise dachte ich, Verständigungsschwierigkeiten, ungewohntes Essen oder verschmutzte Luft würden die größten Herausforderungen in China werden. Tatsächlich ist es der allgegenwärtige Lärm, der mich am meisten Kraft kostet.

Die Chinesen haben da offenbar ein anderes Toleranzlevel. Sie quatschen, rufen, lachen, schimpfen, hupen pausenlos. In den Zügen ist es keine Seltenheit, dass jemand einen Film auf seinem iPad ohne Kopfhörer anschaut. Die Handys klingeln lauter als in Europa. Der Krach ist ein ständiger Überbietungskampf und wird selbst einem Punkrock-Trommler schnell zu viel.

Umso entspannender also das Wandern entlang der Mauer. An vielen Stellen fehlt ein großer Teil des Gemäuers. Mao selbst soll seine Untertanen dazu aufgerufen haben, die Steine als Baumaterial zu entwenden. An gut erhaltenen Stellen ist der Wall aber locker vier Meter hoch. Alle paar hundert Meter stehen Türme, die etwa auf das doppelte kommen. Ihr Inneres bietet den einzigen Schutz vor der Sonne, so dass ich hier immer wieder eine kurze Pause mache.

Nur in einen Turm traue ich mich nicht hinein, er wird von einer Herde Ziegen bewacht. Sie starren mich an, recken ihre Hörner nach vorne und blöcken. Ich suche einen Weg außenrum.

Gegen die Mongolen hat die chinesische Mauer übrigens nicht standgehalten. “Die Stärke einer Mauer hängt vom Mut derer ab, die sie bewachen”, soll Dschingis Khan gesagt haben.

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Die heutigen Herrscher Chinas haben ihre eigene große Mauer gebaut: Das chinesische System der Internet-Zensur trägt den Spitznamen “The Great Firewall”. Es soll die Chinesen von als bedrohlich erachteten ausländischen Informationen schützen. Dienste wie Facebook, Twitter und alle Google-Angebote sind von China aus nicht zugänglich, ebenso westliche Medien wie die New York Times oder BBC.

Während die alte chinesische Mauer von äußeren Feinden überwunden wurde, sind es heute die Chinesen selbst, die einen Durchschlupf suchen. Die jungen Leute zumindest in den großen Städten nutzen vor allem Facebook ziemlich selbstverständlich. Möglich macht das ein VPN-Zugang, der den Datenverkehr über einen Server etwa in Hongkong, Taiwan oder Japan umleitet. Das ist etwas umständlich und es surft sich damit langsamer, aber es funktioniert.

Der wichtigste Internetdienst für die Chinesen ist aber ohnehin das aus dem eigenen Land stammende WeChat. Die App lässt sich am ehesten mit WhatsApp vergleichen, enthält aber auch einen Facebook-ähnlichen Kanal für Status-Updates und Fotos und eine Bezahlfunktion. Wenn ich irgendwo einen Chinesen mit Smartphone sehe, ist darauf fast immer WeChat geöffnet.

Am Ende meiner idyllischen Wanderung werde ich auf brutale Art zurück in die chinesischen Realität katapultiert. Der Bus von Gubeikou zurück nach Miyún ist bis auf den letzten Stehplatz besetzt. Die Leute quasseln ohne Pause. Der Fahrer hupt vor jeder Kurve. Bei jedem Ein- und Aussteigen piepst ein Gerät, das den Fahrpreis von einer Chipkarte abbucht.

Mir gegenüber sitzt ein Schuljunge, der sich verzweifelt dem Krach zu entziehen versucht. Kopfhörer in den Ohren, will er auf seinem Handy ein Buch lesen (nur ein einziges Mal habe ich bisher einen Chinesen mit einem gedruckten Buch gesehen. Das war ein alter Mann, der sich in Pekings Univiertel mit einem Hocker auf den Fußweg gesetzt hat, um zu lesen. Einen E-Reader habe ich gar nicht gesehen. Aber recht viele Leute lesen auf dem Handy). Leider hat der Schulbub einen hyperaktiven Klassenkameraden, dessen Augen keine Sekunde still stehen und der ständig an dem Lesenden herumzupft, um ihm irgendetwas mitzuteilen. Nicht so einfach, hier mal ein paar Minuten Ruhe zu finden.

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