China-Reiseblog, Teil vier: Emei Shan
Der Emei Shan ist einer der vier heiligen Berge des Buddhismus in China. Ich war dort zwei Tage unterwegs, habe nicht nur den Gipfel auf 3079 Metern erreicht, sondern auch zwei neue Freunde gefunden. Travis und Wangchao sind die ersten Chinesen, die ich näher kennen gelernt habe.
Der Tag beginnt mit sehr frühem Aufstehen und ein paar Stunden im Bus. Gegen 10 Uhr stehe ich am Fuß des Emei Shan, etwa 150 Kilometer südwestlich von Chengdu in der Provinz Sichuan. Die ersten Kilometer gehe ich vor allem an Imbissbuden, Souvenirständen und sehr vielen Touristen vorbei.
Dann erreiche ich die “Monkey Wilderness Zone”. Das ist ein Abschnitt des Weges, wo besonders häufig Makaken aus dem Wald kommen – in der Hoffnung auf Futter aus Touri-Händen. Ein kleines Äffchen sitzt auf dem Geländer am Wegrand und schaut mich an. Ich gehe in die Hocke, schaue zurück und will ein Foto machen. Plötzlich springt mir ein ausgewachsener Makake von hinten in den Nacken und klammert sich fest. Ich kreische und drehe mich hin- und her, bis er endlich abspringt. Etwa zehn Chinesen lachen mich aus. Später lese ich dann auch die Sicherheitshinweise: Man solle keinen längeren Blickkontakt mit den Affen aufnehmen. Und wenn einer angreift, keinesfalls schreien…
Viele Besucher scheinen vor allem wegen der Affen hierher zu kommen. Nach Passieren der Monkey Zone wird es auf dem Weg jedenfalls wesentlich ruhiger. Und steiler. Technisch ist der Emei Shan keine Herausforderung, der Pfad zum Gipfel ist komplett mit steinernen Stufen und Geländern befestigt. Aber die Treppen sind verdammt steil. Und mit etwa 40 Kilometern ist der Weg ziemlich weit.
Inzwischen bin ich meistens allein auf dem Weg, der in Serpentinen in die steilen, von dichtem Dschungel bewachsenen Hänge gebaut ist. Ohne Machete ließen sich die angelegten Wege kaum verlassen. Es ist warm und feucht. Manchmal endet die Sicht nach zwanzig Metern im Nebel. Gelegentlich komme ich an einem Tempel vorbei. Die meist rot gestrichenen Gemäuer beherbergen jeweils einen Schrein mit goldener Buddha-Figur. Außenrum liegen einfache Gästezimmer. Dort können Wanderer wie ich auf dem Weg zum Gipfel übernachten, manche bleiben auch ein paar Tage und meditieren.
Gegen fünf Uhr am Nachmittag erreiche ich den Yuxian-Tempel. Da ich nicht weiß, wie weit es zur nächsten Schlafgelegenheit ist, bleibe ich hier. Die Wirtin führt mich ins Matratzenlager. Eine kahle Glühbirne an der Decke beleuchtet den finsteren Raum. Es zieht durch ein notdürftig zugenageltes Loch im Fenster. Ich lege mich auf ein Bett mit kitschigem Rosenbezug und döse vor mich hin, bis die Wirtin zum Abendessen ruft.
Im Speisesaal sitzen auf schmalen Holzbänken zwei Chinesen Mitte zwanzig. Zu essen bekommen wir alle drei das gleiche: Reis mit Aubergine und Spinat. Im direkten Vergleich muss ich einsehen, das meine Fertigkeiten im Umgang mit Essstäbchen noch verbesserungswürdig sind.
Nach dem Essen machen sich die anderen wieder auf den Weg. Sie wollen noch zwei Stunden weiter gehen, dann käme ein weiterer Tempel. Ich ärgere mich, meine Übernachtung schon bezahlt zu haben – die zwei Stunden würden den weiten Weg zum Gipfel am nächsten Tag deutlich verkürzen. Doch dann fängt es an zu regnen, und bald darauf stehen die beiden Jungs wieder vor der Tür. Wir verabreden uns für den nächsten Morgen.
Um sieben Uhr bekommen wir Nudeln zum Frühstück, dann gehen wir los. Es geht weiter auf steilen Treppen Richtung Gipfel.
Unterwegs haben wir Zeit, uns etwas besser kennen zu lernen. Meine beiden Wanderkumpane könnten unterschiedlicher kaum sein.
Travis – was natürlich sein english name ist, den sich viele Chinesen frei aussuchen, weil Leute aus dem Westen die chinesischen Namen eh immer falsch aussprechen – Travis also hat traditionelle chinesische Kultur studiert; er macht nach dem Frühstück ein paar Kung-Fu-Übungen und behandelt die schmerzenden Waden des Kochs mit Akupunktur. Beim Wandern hört er auf dem iPhone buddhistische Weisheiten. Wenn wir an einem Tempel vorbei kommen, wirft er sich vor der Buddha-Statue mehrmals auf den Boden. Überhaupt wirkt Travis oft wie ein Mönch. Oder zumindest jemand, der viel Zeit mit Meditieren verbringt. In seinen braunen Augen liegt immer ein sehr klarer, fokussierter Blick. Er spricht leise und langsam bewegt sich kontrolliert und elegant.
Sein Freund Wangchao ist das exakte Gegenteil. Ein Zappelphilipp, der kaum still halten kann, viel lacht und viel redet. Oft fuchtelt er mit zwei Handys gleichzeitig herum. Er merkt dann selbst, dass er die nicht beide bedienen kann, steckt eines in die Tasche, zieht es aber kurz darauf wieder raus. Chao trägt Brille, viele Pickel und verwaschene Jeans. Nach einer Wanderpause rennt er wie wild die Treppen hoch. Nach kurzer Zeit geht im die Luft aus, was ihn aber nicht vom Reden abhält. Er schimpft über seinen schweren Rucksack, trägt ihn aber oft nur auf einer Schulter, lässt den Hüftgurt offen. Beruflich ist Chao Bauingenieur und baut Windkraftanlagen.
Das ist vielleicht ein bisschen viel rein interpretiert, aber man könnte sagen, Travis und Chao stehen stellvertretend für das alte und das neue China. Travis verkörpert Weisheit und Tradition, er wahrt stets das Gleichgewicht von Yin und Yang. Chao dagegen steht für das moderne China: dynamisch, hektisch und bauwütig, immer kurz vor dem Kollaps.
Gegen Mittag erreichen wir einen großen Tempel, zu dem auch eine Straße führt. Es ist vorbei mit der Ruhe, hier gießt sich eine Busladung nach der nächsten über den Berg. Das letzte Stück zum Gipfel lässt sich von hier aus mit der Seilbahn zurücklegen. Travis und Chao haben es plötzlich eilig und nehmen die Bahn. Ich kämpfe mir nochmal eine gute Stunde meinen Weg durch die Massen nach oben. Dann stehe ich das erste Mal auf über dreitausend Metern.
Der Gipfel des Emei Shan ist komplett zugebaut mit Seilbahnstation, Tempeln, Aussichtsterrassen und einer riesigen Buddha-Statue. Überall wuseln Leute rum und manche wollen auch noch ein Selfie mit mir.
In einer kleinen Ecke mit nacktem Felsen treffe ich die Jungs wieder. Schönes Gefühl, es zusammen hier hoch geschafft zu haben.
Weil wir alle am gleichen Tag noch zurück nach Chengdu müssen, nehmen wir nach unten den Bus. Abends schickt mir Chao auf WeChat den Standort eines Lokals. Als ich dort ankomme, sitzen die beiden auf Plastikhockern auf der Straße, um sie herum sechs Freunde. Auf dem Tisch steht ein Kasten Bier. Wir essen Grillspieße mit Schwein, Hühnchenklauen, Fisch, Lotuswurzeln und allerhand Gemüse. Zwischen dem zweiten und dritten Bier setzt Travis sechs Akupunktur-Nadeln in mein lädiertes Bergsteigerknie.
Um Mitternacht gehe ich müde und glücklich zum Hostel. Es ist eine warme Nacht. Die Nacht des chinesischen Mondfests.