Wurde die Stadt evakuiert? Hat jemand versehentlich auf Stumm geschalten? Was stimmt hier nicht?
Es fühlt sich seltsam an, mit dem Bus aus New York an der Union Station in Washington DC anzukommen. Vor gut vier Stunden gingen wir noch über den Times Square. Wichen vorbeistürmenden Kostümträgerinnen und hupenden Taxis aus, versuchten aufdringliche Verkäufer und blinkende Reklame zu ignorieren.
Jetzt fahren auf der breiten Massachusetts Avenue eine Handvoll leiser Hybridautos vorbei. Die Häuser haben fünf Stockwerke statt fünfzig, sind aus Granit statt Stahl. Es gibt sogar Bäume. Es ist eine andere Welt.
Mit der U-Bahn fahren wir zu unserer Unterkunft. Die Bahnhöfe sind bemerkenswerte Bauwerke: Große Röhren aus hellem Stein mit ausgeklügelter Beleuchtung. Im Gegensatz zu New York gibt es Anzeigentafeln und Fahrpläne. Jede Station in der Innenstadt gleicht der anderen, was die Geschichte Washingtons als Planstadt widerspiegelt.
Im vollbesetzten Zug sind wir neben einem Maurer die einzigen Weißen. Hier draußen im Vorort wohnen ausschließlich Schwarze. Das umgekehrte Verhältnis beobachten wir abends auf einer Veranstaltung im Regierungsviertel. Offiziell wurde die Rassentrennung vor vielen Jahrzehnten abgeschafft, faktisch existiert sie häufig immer noch.
Die Veranstaltung ist Teil eines Umwelt-Film-Festivals. Zufällig haben wir davon gelesen und uns für einen Film über die Appalachen entschieden, der im US-Agrarministerium gezeigt wird. Wenn auch öffentlich ausgeschrieben, rechnet man hier nicht wirklich mit unangemeldeten Publikum: Am Eingang wacht ein Uniformierter über die Gästeliste.
- What’s your name, Sir?
- Endt. But I’m not on the list.
- How do you know?
- Because I did not register.
- What’s your name?
- Endt.
- Oh, you are not on the list.
- Yeah.
Ratlos frägt der Mann eine Kollegin, die eine weitere hinzuholt. Die stellt sich als Organisatorin des Abends vor und ist sichtlich erfreut, dass jemand einfach so den Film sehen will. Sie schreibt uns on the list und besorgt uns Besucherausweise des US Departement of Agriculture. Im Saal selbst sind neben Regierungsbeamten in schlecht sitzenden Anzügen auch viele Mitarbeiter der Forstbehörde, zwischen deren Fleecejacken wir mit unserer Reisekleidung kaum auffallen.
Nach Filmen und Podiumsdiskussion sind wir hungrig. Auf Empfehlung von Heather gehen wir zu Ben’s Chili Bowl. Ein klassisch-amerikanisches Restaurant mit roten und weißen Fliesen, super Veggie-Optionen und einer ausgeprägten Begeisterung für Barack Obama und Bill Cosby, deren Porträts auf die Außenwand gesprüht sind. Hier treffen schwarze Jungs von nebenan auf Regierungsbeamte, die an der Theke zum Feierabend die Hemdsärmel hochkrempeln.
Am nächsten Tag stehen ein paar Sehenswürdigkeiten und Museen auf dem Programm. Erwähnenswert ist das Lincoln Memorial. Ein majestätischer, beeindruckendender Bau zum Gedenken an den Mann, der die Sklaverei abgeschafft hat. Im National Museum of American History fasziniert uns die Geschichte von Julia Child, die mit ihren Kochbüchern den Amerikanern europäische Esskultur näher gebracht hat und in den 1950er-Jahren der erste Fernsehkoch der Welt wurde.
Zum Abschluss eine Station, an die sich kaum Touristen verirren: Die Buchhandlung Politics&Prose in den nördlichen Außenbezirken. Ich trinke guten Kaffee, kaufe zwei weitere Bücher und lerne einen Kollegen kennen. Drei Dinge schätzt Jim an Deutschland: Leica, Mercedes und den „Vorleser“ von Bernhard Schlink. Zuckerbäcker-Literatur gibt es im P&P leider nicht. Zeit, in den Süden zu fahren.
Dagmar sagt:
Das Lesen macht richtig Spaß!
08. April 2015 — 21:16