Öl bleibt jetzt für immer billig, schreibt die FAZ. Woher wollen die das wissen?
„Die Ölpreise werden weiter niedrig bleiben“ lautet eine Überschrift im Wirtschaftsteil der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von gestern (nicht online). Das lässt viel Raum für Interpretation: Was bedeutet niedrig, und wie lange ist „weiter“? Deutlicher ist der erste Satz des Artikels: „Ölpreise von mehr als 100 Dollar gehören der Vergangenheit an.“
„Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen“ soll Niels Bohr gesagt haben. Bohr war Physiker, in seiner Welt lassen sich manche Dinge relativ gut vorhersagen, Sonnenfinsternisse zum Beispiel. Das Wetter ist schon komplizierter, obwohl es prinzipiell auch den Gesetzen der Physik folgt. Aber der Ölpreis? Um den vernünftig vorherzusagen, müsste man den Lauf der Weltkonjunktur, verschiedenste regionale Konflikte, den Dollarkurs, technische Entwicklungen der Fördertechnik, den Fortschritt bei regenerativen Energiequellen, die Launen der saudischen Prinzen und hundert andere Dinge kennen. Woher weiß die FAZ das alles?
Tatsächlich beruft sich der Artikel auf einen aktuellen Bericht der Internationalen Energieagentur. Blöd nur, dass die IEA darin gar keine Preisprognosen abgibt. Der Bericht enthält umfangreiche Analysen zur Entwicklung von Angebot und Nachfrage von Öl für verschiedene Weltregionen. Die Organisation traut sich aber nicht zu, daraus Vorhersagen für den Preis abzuleiten. In der Zusammenfassung (PDF; den ganzen Bericht verkaufen sie für 80 Euro) steht:
As with previous editions of this Report, the price assumptions (not forecasts) used as modelling input
are derived from the futures curve.
„Not forecasts“. Ausdrücklich keine Vorhersagen. Die Annahmen der IEA werden aus den Kursen für Termingeschäfte abgeleitet. Also aus Geschäften, bei denen die Lieferung von Öl zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft vereinbart wird. Diese Kurse spiegeln in etwa die kollektiven Preiserwartungen der Analysen und Händler wieder. Sie geben also bestimmt eine gewisse Orientierung, wohin die Reise gehen könnte. Aber Vorhersagen sind das nicht.
Die sind auch kaum möglich. So hat sich der Ölpreis seit 1946 entwickelt (inflationsbereinigt):
Die größten Ausreißer sind die Ökrise der 1970er-Jahre und die Finanzkrise seit 2008. Aber auch dazwischen macht der Kurs was er will. Und das sind jetzt schon die jährlichen Durchschnittswerte – im Tagesverlauf geht es noch viel wilder zu.
Diese Prognosen Annahmen über den Ölpreis gibt die IEA seit 2009 heraus. Zumindest für ein paar Jahre kann man also schon sehen, wie gut das mit der realen Preisentwicklung zusammenpasst.
Die fette schwarze Linie ist der Ölpreis, jeweils als jährlicher Durchschnitt. Die anderen Linien sind die Schätzungen aus den jeweiligen IEA-Berichten. Den Sprung von 80 Dollar 2010 zu 110 Dollar ein Jahr später haben sie also nicht kommen sehen. Danach war der Kurs relativ brav, da hauen auch die Prognosen Annahmen ganz gut hin.
Letztes Jahr ist ja nochmal einiges passiert. Das zeigt sich im Jahres-Durchschnitt für 2014 nicht so krass, aber der Ölpreis ging von 112 Dollar im Juni auf nur noch 62 Dollar im Dezember runter. Das ist der aktuelle Preisverfall, der geopolitisch für einigen Wirbel sorgt – die USA finden’s super, ihre Feinde (Iran, Venezuela, Russland) haben große Probleme dadurch. Das ist der aktuelle Preisvefall, auf dem die Jubel-Überschrift der FAZ basiert.
Aber: Auch den hat die IEA vorher nicht abgesehen. Die Prognosen Annahmen, die bis einschließlich 2014 erstellt wurden, zeigen zwar eine Tendenz nach unten – aber längst nicht so krass, wie es letztes Jahr tatsächlich passiert ist. Der aktuelle Bericht von dieser Woche beinhaltet den Kurseinbruch – da war er ja schon passiert.
Bis 2020 prognostiziert nimmt die IEA jetzt einen moderaten Wieder-Anstieg des Ölpreises an. Kein Mensch weiß, ob es nicht nochmal zu unerwarteten, drastischen Ausschlägen nach oben oder unten kommt. Verursacht durch was auch immer. Und für die Zeit nach 2020 gibt es überhaupt gar keine Aussage. Der Satz in der FAZ – ein Ölpreis über 100 Dollar gehöre der Vergangenheit an – ist also unseriös.
Quellen: IEA, BP, Statista. Spreadsheet mit meinen Rohdaten. Die IEA-Berichte enthalten keine Tabellen mit den Zahlen. Die Diagramme sind manchmal beschriftet, manchmal nicht. In diesem Fall habe ich die Werte mit dem Tool Plot Digitizer ermittelt.
Nachtrag: Ein kurzer methodischer Vergleich der IEA-Annahmen mit den Klimaprognosen des IPCC