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Die Suppe auslöffeln

Warum wir vielleicht doch ein Smartphone-Problem haben

Vor ein paar Monaten saß ich mit Kollegen beim Mittagessen. Vor mir standen eine Suppe, ein Hauptgericht und ein kleiner Beilagensalat. Ich unterhielt mich mit den Kollegen und begann nebenbei, die Suppe zu essen. Suppe ist ja schließlich eine Vorspeise. Nach zwei oder drei Löffeln schob ich allerdings die Suppe weg und begann, mir Happen des Hauptgerichts auf die Gabel zu schaufeln. Nach wiederum zwei oder drei Bissen kehrte ich zur Suppe zurück. Da hielt ich plötzlich inne.

Offenbar ist meine Aufmerksamkeitsspanne inzwischen so weit herabgesunken, dass ich nicht mehr in der Lage bin zwei Gänge eines Mittagessens hintereinander zu mir zu nehmen, ohne zwischendurch hin und her zu wechseln. Ich finde das nicht gut. Und ich glaube, dieses Defizit, das ich an jenem Tag in der Kantine diagnostiziert habe, liegt an meinem Smartphone-Konsum.

300Im aktuellen Spiegel steht eine Titelgeschichte mit der Überschrift „Leg doch einfach mal das Ding weg!“ (hier gegen Bezahlung lesbar). Darin erzählen mehrere Familien von ihrem Ringen um den richtigen Umgang mit Telefonen und Tablets, die im Alltag eine immer größere Rolle spielen. Vor allem, so der Spiegel, sei das bei Kindern ein Problem.

Mein SZ-Kollege Dirk von Gehlen hat auf seinem Blog eine Antwort auf den Spiegel-Text geschrieben. Darin verteidigt er quasi das Handy gegen die Kritik: Es sei halt eine neue Technologie, mit der man den Umgang erst lernen müsse, kein Grund zur Aufregung.

Ich mag diese gelassene Haltung sehr. Und ich gebe Dirk grundsätzlich recht. An einer Stelle muss ich allerdings widersprechen. Dirk vergleicht in seinem Beitrag das Smartphone mit einem Fahrrad. Auch das sei ja schließlich mal erfunden worden und die Leute hätten erst herausfinden müssen, wie man es benutzt. Daher sei der „Weglegen“-Aufruf auf dem Spiegel-Cover ein schlechter Ratschlag. Schließlich lerne man Radfahren nur durch Radfahren und nicht, wenn das Radl in der Garage steht.

Dieser Vergleich zieht nicht. Ich bin leidenschaftlicher Radfahrer. Radfahren macht mich glücklich. Aber Radfahren arbeitet nicht mit diesem raffinierten Belohnungs-Mechanismus, der Smartphones so verführerisch macht. Diese unzähligen kleinen Benachrichtigungen über neue Botschaften und Likes, wegen derer wir unsere Telefone so oft aus der Tasche ziehen, die spielen schon sehr geschickt mit unserem menschlichen Verlangen nach Aufmerksamkeit. „Wer ist eigentlich auf die Idee mit dem Drogenvergleich gekommen?“, frägt Dirk. Nunja, natürlich sind Smartphones kein Heroin, aber auf hormoneller Ebene kann ich gewisse Parallelen erkennen.

Daher ist es schon ein wichtiger Teil des Damit-umgehen-lernens, sich nicht abhängig zu machen von diesem Belohnungssystem. Ich versuche mir seit dem Suppen-Erlebnis, bewusst Auszeiten zu nehmen, eine Stunde, einen Tag, demnächst ist eine Woche geplant. Ich finde, das tut mir gut.

In einem Punkt gebe ich Dirk allerdings recht. „3. Wieso muss eigentlich stets die Jugend als Schreckensszenario herhalten?“ frägt er im Bezug auf die Spiegel-Geschichte. Nach meiner Beobachtung sind die schlimmsten Smartphone-Missbraucher keine Jugendlichen, sondern vielmehr Eltern, die ihrem Gerät mehr Aufmerksamkeit schenken als ihren Kindern. In der S-Bahn saß neben mir einmal eine junge Mutter mit ihrem Sohn, der vielleicht vier oder fünf Jahre alt war. Ein unglaublich wacher, neugieriger Kerl. Er sah die ganze Zeit aufgeregt zum Fenster hinaus und stellte kluge Fragen zu den Dingen die er sah, zu Gebäuden, Gleisanlagen, Menschen auf dem Bahnsteig. Ich verstehe schon, dass so ein Kind für seine Eltern ziemlich anstrengend sein kann. Aber diese Mutter, die kaum aufsah, immer nur knappe Antworten hinwarf und wieder in ihrem Telefon versank, hat mich sehr, sehr wütend gemacht.

Als meine Eltern mir Radfahren beibrachten, waren sie selbst schon ziemlich gut darin und konnten mir zeigen, wie es geht. Bei Smartphones und den heutigen Eltern bin ich mir da nicht so sicher.

Vielleicht hat Dirk recht und wir als Gesellschaft haben kein großes Smartphone-Problem. Ich persönlich habe schon eines, fürchte ich. Und vermutlich bin ich damit nicht der einzige.

Die neue presstige: Ausgabe 26 über Macht

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Heute erschien die neue und 26ste Ausgabe von presstige, dem Augsburger Hochschulmagazin. Es widmet sich schwerpunktmäßig dem Thema Macht. Ich durfte wieder als Teil der Chefredaktion mitarbeiten. Es ist eine wahnsinnig spannende Erfahrung, die Entstehung so eines Magazins komplett mitzuerleben. Vom ersten Brainstorming, über die Themenplanung, Recherche bis zur Endredaktion steht sehr, sehr viel Arbeit dahinter. An dieser Stelle einen großen Dank an das gesamte Team, allen voran an Petra, Natalia und Jan. Mit euch hat es immer Spaß gemacht. Ihr rockt!

Hier kann man die digitale Ausgabe durchblättern:

Banker und Punks

Was ich hier noch festhalten möchte, sind ein paar Sätze, die Constantin Seibt diese Woche auf der re:publica gesagt hat. Seibt ist ein Schweizer Journalist. Er ist Autor des Blogs „Deadline“ und des gleichnamigen Buches. In beiden hat er kluge Dinge darüber aufgeschrieben, wie sich der Journalismus verändern muss, um die Medienkrise zu überstehen. Davon handelt auch der re:publica-Vortag. Vorher allerdings sagt Seibt interessante Dinge über Punk:

Ich war eigentlich für Punk. Ich sah nicht so aus, aber im Herzen war ich einer. Die Schweiz musste in die Luft gesprengt werden, so satt und zufrieden wie sie war. Und ich hielt Banker für Schwiegersöhne, die im Haus im Grünen leben. Ein langweiliges Leben mit einem guten Einkommen. Keine Option. Ich habe mich geirrt. Die Punks haben ganz gute Musik gemacht und in Zürich eine Beisl-Szene organisiert. Aber die Schwiegersöhne haben beinahe das Weltfinanzsystem in die Luft geprengt. Und sind auch noch damit davon gekommen. Es ist so, dass ich dann immer einen leisen, bitteren Neid fühle, wenn ich mit Bankern spreche. Sie haben das erreicht, was ich in meiner Jugend wollte.

An dieser Stelle schweift er ein bisschen ab. Aber dann kommt’s:

Deshalb ist Punk heute eigentlich nicht mehr Zerstörung, nicht mehr die Atombombe auf die Schweiz. Sondern der eigentliche Protest ist heute, gute Arbeit zu machen. Etwas Konstruktives. Das ist das, was die Anderen nicht hinkriegen.

Ich finde das eine sehr interessante Folgerung aus der Finanzkrise.

Hier der Vortrag auf Video. Die zitierte Passage beginnt etwa bei 3:00. Ab 6:00 geht es dann ins Medien-Spezifische.

Die Grausamkeit der Krise, Teil II

Welche verheerenden Auswirkungen die Troika-Politik auf das griechische Gesundheitssystem hat, war hier ja bereits Thema. Heute erschien in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet ein lesenswertes Paper mit dem Titel „Greece’s health crisis: from austerity to denialism„, das dazu eine Reihe von dramatischen Zahlen enthält. Aus Zeitmangel, und weil das Material gut für sich spricht, folgt nun eine Reihe an Zitaten:

The number of syringes and condoms distributed to drug users fell by 10% and 24%, respectively.14 The number of new HIV infections among injecting drug users rose from 15 in 2009 to 484 in 2012.

State funding for mental health decreased by 20% between 2010 and 2011, and by a further 55% between 2011 and 2012.

Deaths by suicide have increased by 45% between 2007 and 2011.

Researchers from the Greek National School of Public
Health reported a 21% rise in stillbirths between 2008 and
2011.

Und das alles für nichts:

If the policies adopted had actually improved the economy, then the consequences for health might be a price worth paying. However, the deep cuts have actually had negative economic eff ects, as acknowledged by the International Monetary Fund. GDP fell sharply and unemployment skyrocketed as a result of the economic austerity measures, which posed additional health risks to the population through deterioration of socioeconomic factors.

Die Autoren verweisen auf Island als Beispiel dafür, wie eine Schuldenkrise mit harten Sparmaßnahmen bekämpft werden kann, ohne die Gesundheit der Bevölkerung zu ruinieren.

Wem das zu viele Zahlen sind, sei nochmal auf die beiden Reportagen von Alex Rühle vom Juni 2013 verwiesen, in denen die Geschichten dazu erzählt werden.

Die BILD-Zeitung verbreitet währenddessen weiter die dreiste Lüge, die Griechen seien ja viel reicher als wir, was Michalis Pantelouris sehr wütend macht. Und mich auch.

Die neue presstige ist am Start

Einer der vielen Gründe, warum ich das Bloggen hier in den letzten Wochen arg vernachlässigt habe, ist der, dass ich mich um die neue Ausgabe des Augsburger Hochschulmagazins presstige gekümmert habe. Das Magazin widmet sich diesmal schwerpunktmäßig dem Thema Essen. Dazu habe ich eine Titelgeschichte über Containern und das Problem der Nahrungsverschwendung geschrieben. Die und viele andere Artikel kann man im gedruckten Heft nachlesen – oder auf der presstige-Homepage, die wir nebenbei auch noch neu gebaut haben. Oder direkt hier im E-Paper:

Die Grausamkeit der Krise, zum Nachlesen

Seit Jahren tobt diese sogenannte Krise, und man weiß immer noch nicht so recht, was man von ihr halten soll. In unserer Wahrnehmung kommt die Krise ja hauptsächlich als großes Finanzspektakel daher, da werden Milliarden hin und Rettungspakete her geschoben. Was hab‘ ich damit eigentlich zu tun, fragt man sich ein bisschen. Ist ja alles nur Spielgeld, wie bei Monopoly, denkt man sich ein bisschen.

Im Hinterkopf ist zwar dieser Verdacht: Irgendwie muss das ja auch eine reale, eine handfeste, eine menschliche Dimension haben. Und man hört natürlich auch immer wieder von Jugendarbeitslosigkeit (auch da: hauptsächlich Zahlen), von zunehmenden Selbstmorden und Verzweiflung. Aber eine richtige Vorstellung hat man nicht.

Zum Glück gibt es Journalisten, die in die Welt hinausgehen, die Welt beobachten und anschließend der Welt erzählen, was sie gesehen haben. Ich glaube, in den letzten Jahren hat der deutsche Journalismus das zu wenig gemacht, hat die Krise zu sehr entlang von Troikaberichten und Krisengipfeln begleitet und zu wenig von der Straße aus. Doch in den letzten Wochen hat Alex Rühle, Reporter bei der Süddeutschen Zeitung, mehrere großartige Geschichten aus Griechenland geschrieben – großartig ist natürlich nicht was Rühle erzählt, sondern wie er es erzählt. Der Inhalt ist mit grausam besser beschrieben.

Im ersten Stück geht es um Sisa, die Droge der Krise, zusammengepanscht aus Chrystal Meth und Batteriesäure. Das Zeug sei billig, „ein fast unschlagbares Argument in einem Land, in dem selbst Ärzte nur noch 900 Euro verdienen“. Schonungslos schreibt Rühle auf, was er auf den Straßen gesehen hat, er nennt seine Eindrücke „Elendspolaroids“:

Die junge Frau, die sich von einem strubbeligen Mann mit öligen Fingernägeln einen Schuss unter die Zunge setzen lässt. Der Schwarze mit den weit aufgerissenen Augen, der in einen leeren Betonkübel starrt. Oder die Schwangere mit dem offenen Bein, die mit vier Spritzen in der Hand die Straße runterhumpelt.

Griechische Hilfsorganisationen, berichtet Rühle, würden inzwischen ihre Mitarbeiter aus Afrika abziehen, weil sie im eigenen Land ebenso dringend gebraucht werden.

Im zweiten Text portraitiert Rühle einen Arzt, der sich ehrenamtlich gegen die dramatischen Einsparungen im Gesundheitswesen stemmt. Mit vier Kollegen hat Giorgos Vichas eine Praxis gegründet, sie behandelt dort ehrenamtlich ein paar Tausend der Millionen Griechen, die keine Krankenversicherung mehr haben, und zum Teil auch keinen Strom- oder Wasseranschluss mehr.

Der dritte Text ist keine Reportage, sondern eine Buchbesprechung. Rühle stellt unter der Überschrift „Wenn Sparen tötet“ ein Buch vor, dass sozusagen all das, was er vorher aufgeschrieben hat, wissenschaftlich unterlegt. Die Autoren von „The Body Economic“ beschreibt den Zusammenhang zwischen Sparmaßnahmen und der Gesundheitsversorgung eines Landes – am dramatischen Beispiel von Griechenland, aber auch an Hand vieler historischer Fälle. In Krisenzeiten nehmen Krankheiten zu. Werden gleichzeitig die Gesundheitsausgaben gekürzt (in Griechenland sind 35.000 Krankenhausstellen abgebaut worden), hat das dramatische Folgen. Wiederum am Beispiel Griechenland: Eine um 40 Prozent gestiegene Kindersterblichkeit.

Jeder dieser Texte ist großer Journalismus. Zusammen genommen machen sie deutlich, welches Disaster die sogenannte „Rettungspolitik“ anrichtet, die hierzulande oft als großzügig empfunden wird. Völlig grotesk ist das auch, weil die ökonomische Begründung der rigorosen Sparpolitik in sich zusammen gefallen ist. Erinnert man sich nun daran, dass der Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten (ein ganz großer Freund des Sparens) jenen Mann zu seinem Sprecher ernannt hat, der für die Griechenland-Hetze der Bild verantwortlich ist, möchte man heulen. Im Übrigen bin ich der Meinung, Pfand gehört daneben.

Disclaimer: Ich arbeite ab und zu für den Süddeutschen Verlag, in dem die oben gepriesenen Artikel erschienen sind.

Update, Februar 2014: Ein neues Paper belegt den Niedergang des griechischen Gesundheitssystems mit dramatischen Zahlen.

Comedy ist für Leute die keine Zeitung lesen

Comedy ist was für Leute, die keine Zeitung lesen. Die beste Satire ist nur halb so lustig wie die blanke, ungeschminkte Realität. In den aktuellen vdi nachrichten, der Postille des Verbands Deutscher Ingenieure, wird recht ausführlich von der International Consumer Electronic Show berichtet. Die CES findet jeden Januar in der Weltvergnügungshauptstadt Las Vegas statt und ist eine der größten Messen für Unterhaltungselektronik. Der Branche gehe es nicht so gut, schreiben die Leute vom vdi, nach vorher zweistelligen Wachstumsraten sei 2012 ein schlechtes Jahr gewesen. Doch auf der letzten Seite wird ein Gadget vorgestellt, da haut es einen von den Socken. Das Ding sieht aus wie ein kleiner Mars-Roboter, ist aber natürlich viel besser, verspricht es doch die Lösung eines uralten Menschheitsproblems. Wer nämlich bisher Videoaufnahmen von seinen Haustieren machen wollte, so die vdi nachrichten, musste sich dafür „flach auf den Boden legen und fortlaufend verrenken“. Und wer kraucht schon gern auf dem von Katzenhaar übesäten Fußboden herum, um seine Miezi beim miezen zu filmen. Freilich kann ein Leben ohne Katzen-, Hunde-, Meerschweinchen- und Einsiedlerkrebse-Videos auch keine Lösung sein. Einen Ausweg aus diesem Dilemma haben jetzt die Jungs von BeeWi gefunden. Ihr Roboter „Scara Bee“ ist mit einer Kamera ausgestattet, die Pudel und Perserkatze auf Augenhöhe begegnet. Gesteuert wird Scara Bee ganz bequem über iPhone oder iPad, dorthin werden per W-LAN auch die Bilder übertragen. Preis: rund 150 Dollar.

Eine neue Definition von Coolness

Es gibt ein Buch, das mich als Teenager sehr begeisterte und mein Weltbild entscheidend geprägt hat. In der Annahme, dass meine damalige Begeisterung viel mit jugendlicher Naivität zu tun hatte, habe ich das Buch kürzlich nochmal gelesen. Vielleicht bin ich immer noch naiv, aber der Text hat mich erneut begeistert und inspiriert.

Es geht um  „CULTURE JAMMING. Das Manifest der Anti-Werbung“. Kalle Lasn, der Autor, wurde in Estland geboren und lebt inzwischen in Vancouver. Er ist Begründer des Adbusters Magazine und einer der führenden Köpfe von Occupy Wallstreet. Das zentrale Thema dieses sehr wütenden Buchs ist der Konsumkapitalismus, der uns einer ständigen Gehirnwäsche namens Werbung unterzieht und den Planeten vor die Hunde bringt. So fängt es an:

„Das Buch, das Sie in der Hand halten, hat eine Mission, der Sie zunächst einmal instinktiv misstrauen werden. Die Botschaft lautet: Wir können die Welt verändern. Ein gewagtes Versprechen in unserer Zeit, denn es klingt wie ein sinnloser Werbeslogan, wie eine Platitüde aus dem „Weck den Tiger in dir“-Regal.“

Lasn beschreibt, wie die Macht der Konzerne im letzten Jahrhundert unheimliche Ausnahme erreicht hat und längst die Macht der Menschen übersteigt, die sie geschaffen haben. Er schildert die Manipulation, die omnipräsente Werbung, Sponsoring und Product Placement in unseren Gedanken erzeugt haben. Er thematisiert die Auswirkungen dieser Konsummaschinerie auf die Umwelt und auf unsere Psyche. Lasn benennt nicht nur Probleme, er ruft zum Kampf auf:

„Culture Jamming bezeichnet eine subversive kulturelle Praxis, eine Rebellion gegen die Inbesitznahme öffentlicher Räume durch Industrie und Kommerz. Culture Jamming versteht sich als Sand im Getriebe der alles verheißenden und nichts erfüllenden Werbeindustrie.“

Lasn selbst führt diesen Kampf mit seiner Adbusting Media Foundation durch professionelle Anti-Werbung: Die Symbolik der Werbung wird kopiert, aber die Bedeutung umgekehrt. Man sieht dann zum Beispiel Joe Camel, das Kamel der Camel-Werbung, umgetauft als Joe Chemo auf der Krebsstation liegen. Ein schönes Beispiel ist auch dieser Greenpeace-Spot:

CULTURE JAMMING ist eine gute Grundlage, um darüber zu diskutieren wie eine bessere Welt aussehen könnte. Ich versuche mal, den Kern des Problems aus meiner Sicht zu beschreiben.

Es gibt eine gigantische Machtverschiebung von demokratisch gewählten Regierungen zu kapitalgesteuerten Konzernen. Unter den 100 größten Wirtschaftsmächten der Erde sind 43 Unternehmen. Spätestens die Finanzkrise 2008 ff hat gezeigt, wer die Zügel in der Hand hält. Systemrelevant und alternativlos sind die Unwörter der Epoche und zeigen, dass die Staaten dem Wirtschaftsgeschehen ziemlich hilflos gegenüber stehen. Die Gipfeltreffen im Namen von G8, EU et cetera haben längst nur psychologische Bedeutung zur Beruhigung der wild gewordenen Kräfte des Marktes. Wurde bei der Mondlandung 1969 noch die Flagge der Vereinigten Staaten gehisst, stand bei Baumgartners Stratosphärensprung alles im Zeichen des Red-Bull-Logos. Wir sind inzwischen pausenlos mehr oder weniger subtilen Werbebotschaften ausgesetzt. Neben herkömmliche Werbekonzepte wie Plakattafeln und Anzeigen in Magazinen sind alle möglichen neuen Kanäle getreten, die uns beinahe pausenlos bearbeiten. Das Werbebanner auf Spiegel Online, gekaufte Beiträge auf Facebook, das auf Augenhöge angebrachte Poster über dem Pissoir, die geschickt plazierten Produkte in Skyfall, das Markenlogo auf dem Shirt deines Kumpels, das kleine Schild auf den Monitorboxen bei Rock am Ring. Keiner weiß genau, was dieses Dauerbombardement in unseren Köpfen anstellt, aber wenn es keine Wirkung hätte, würde die Wirtschaft dafür keine Milliardenbeträge ausgeben. Allein ein 30-Sekunden-Spot während der Übetragung des Super Bowl 2011 kostete drei Millionen Dollar.

Diese Manipulation für sich genommen könnte man als zwar nervig, aber nicht weiter bedrohlich ansehen. Aber: Die Aktivitäten der Konsumindustrie haben handfeste ökologische und soziale Auswirkungen. Was wir als Wirtschaftswachstum bezeichnen, ist nichts anderes als die großangelegte Vernichtung von Ökosystemen. Zur Befriedigung unseres Mobilitätsbedürfnisses veranstalten die Erdölkonzerne etwa im Nigerdelta ein ökologisches Desaster und zerstören die Lebensgrundlage der Bevölkerung. Die Rohstoffe für unsere Handys und Notebooks werden teilweise von Kindersklaven gefördert. Der Produktion der 30.000 Tonnen Fleisch, die McDonald’s allein in Deutschland jedes Jahr verbrät, fallen nach wie vor Regenwälder zum Opfer. Die mit einem ziemlich postiven Image gesegneten Hersteller von Outdoor-Kleidung verarbeiten laut einer neuen Studie eine Menge giftiger Chemikalien.

Wir werden zur Bestreitung unseres Lebens immer gewisse Güter verbrauchen. Das System des Konsumkapitalismus ist jedoch darauf ausgelegt, dass wir unseren Verbrauch maximieren, ohne Rücksicht auf die ökologischen und sozialen Folgen.

Wenn man sich mit den oben angeschnittenen und weiteren Themen beschäftigt, entwickelt man Wut. Diese Wut kann man kanalisieren und in positive Energie umwandeln, um die von den Konzernen geschaffene Kultur zu jammen. Dazu braucht es keine aufwendigen Adbusting-Kampagnen. Es gibt viele Möglichkeiten, sich der Gleichschaltung des Kaufens zu widersetzen. Anfangen könnte man zum Beispiel mit einer Demaskierung von Red Bull. Zuerst brauchen wir eine neue Definition von Coolness. Längst gibt uns die Industrie vor, was es bedeutet cool zu sein. Ich bin für Individualitität, Kreativität und Spontanität als Säulen einer neuen Coolness, die man nicht kaufen kann. Ich habe Bock auf ein bisschen Revolution. Wer ist dabei? Meldet euch.

Wir sind Idealisten, Anarchisten, Guerillataktiker, Schwindler, Witzbolde, Maschinenstürmer der Neuzeit, Nörgler und Punks. Wir sind der pöbelnde Überrest einer Gegenkultur. Was uns verbindet, ist eine grenzenlose Wut gegen den Konsumkapitalismus und das Gefühl, dass die Zeit gekommen ist, um gemeinsam zu handeln.

  • Kalle Lasn: Culture Jamming. Das Manifest der Anti-Werbung. orange press 2006
  • Klaus Werner-Lobo und Hans Weiss: Das neue Schwarzbuch Markenfirmen. Ullstein 2010
  • www.konsumpf.de
  • www.adbusters.org
  • www.greenpeace.de

Politisches Doping

Okay, das Thema „Demokratiedefizite bei der CSU“ ist etwa so originell wie ein Witz von Mario Barth. Man meint irgendwie, darüber hat man schon alles gehört, da kommt nichts neues mehr. Aber als Parteisprecher direkt beim ZDF anzurufen um Berichterstattung über die Opposition zu verhindern, ist schon ein bisschen arg krass, oder? Da hat ja Wladmir Putin subtilere Wege der Medienmanipulation auf Lager. Wollten die FJS-Erben auf diese Art 50 Jahre Spiegel-Affäre feiern?  Ich schlage jedenfalls vor, der CSU die letzten sieben Wahlsiege abzuerkennen.

Plötzlich auftretende Übelkeit

Ein Asia-Imbiss in meiner Stadt, abends um halb zehn. Ein Mann liegt am Boden, die Augen mit einer Gummimaske bedeckt. Ein zweiter Mann tritt mehrmals brutal auf ihn ein, geht dann zur Seite. Als sich der Maskierte mühsam zur Hälfte aufgerichtet hat, kassiert er einen Fausthieb in den Magen und sinkt wieder zu Boden. Ein Dritter kommt hinzu und springt auf seinen Oberkörper. Zu zweit gehen sie jetzt auf den Wehrlosen los, bis schließlich ein freundlicher Herr in weißem Hemd einschreitet. Ich wende mich von der Wrestling-Übertragung ab und nehme mein Abendessen entgegen. Der Appetit ist mir vergangen.