Seit Jahren tobt diese sogenannte Krise, und man weiß immer noch nicht so recht, was man von ihr halten soll. In unserer Wahrnehmung kommt die Krise ja hauptsächlich als großes Finanzspektakel daher, da werden Milliarden hin und Rettungspakete her geschoben. Was hab‘ ich damit eigentlich zu tun, fragt man sich ein bisschen. Ist ja alles nur Spielgeld, wie bei Monopoly, denkt man sich ein bisschen.

Im Hinterkopf ist zwar dieser Verdacht: Irgendwie muss das ja auch eine reale, eine handfeste, eine menschliche Dimension haben. Und man hört natürlich auch immer wieder von Jugendarbeitslosigkeit (auch da: hauptsächlich Zahlen), von zunehmenden Selbstmorden und Verzweiflung. Aber eine richtige Vorstellung hat man nicht.

Zum Glück gibt es Journalisten, die in die Welt hinausgehen, die Welt beobachten und anschließend der Welt erzählen, was sie gesehen haben. Ich glaube, in den letzten Jahren hat der deutsche Journalismus das zu wenig gemacht, hat die Krise zu sehr entlang von Troikaberichten und Krisengipfeln begleitet und zu wenig von der Straße aus. Doch in den letzten Wochen hat Alex Rühle, Reporter bei der Süddeutschen Zeitung, mehrere großartige Geschichten aus Griechenland geschrieben – großartig ist natürlich nicht was Rühle erzählt, sondern wie er es erzählt. Der Inhalt ist mit grausam besser beschrieben.

Im ersten Stück geht es um Sisa, die Droge der Krise, zusammengepanscht aus Chrystal Meth und Batteriesäure. Das Zeug sei billig, „ein fast unschlagbares Argument in einem Land, in dem selbst Ärzte nur noch 900 Euro verdienen“. Schonungslos schreibt Rühle auf, was er auf den Straßen gesehen hat, er nennt seine Eindrücke „Elendspolaroids“:

Die junge Frau, die sich von einem strubbeligen Mann mit öligen Fingernägeln einen Schuss unter die Zunge setzen lässt. Der Schwarze mit den weit aufgerissenen Augen, der in einen leeren Betonkübel starrt. Oder die Schwangere mit dem offenen Bein, die mit vier Spritzen in der Hand die Straße runterhumpelt.

Griechische Hilfsorganisationen, berichtet Rühle, würden inzwischen ihre Mitarbeiter aus Afrika abziehen, weil sie im eigenen Land ebenso dringend gebraucht werden.

Im zweiten Text portraitiert Rühle einen Arzt, der sich ehrenamtlich gegen die dramatischen Einsparungen im Gesundheitswesen stemmt. Mit vier Kollegen hat Giorgos Vichas eine Praxis gegründet, sie behandelt dort ehrenamtlich ein paar Tausend der Millionen Griechen, die keine Krankenversicherung mehr haben, und zum Teil auch keinen Strom- oder Wasseranschluss mehr.

Der dritte Text ist keine Reportage, sondern eine Buchbesprechung. Rühle stellt unter der Überschrift „Wenn Sparen tötet“ ein Buch vor, dass sozusagen all das, was er vorher aufgeschrieben hat, wissenschaftlich unterlegt. Die Autoren von „The Body Economic“ beschreibt den Zusammenhang zwischen Sparmaßnahmen und der Gesundheitsversorgung eines Landes – am dramatischen Beispiel von Griechenland, aber auch an Hand vieler historischer Fälle. In Krisenzeiten nehmen Krankheiten zu. Werden gleichzeitig die Gesundheitsausgaben gekürzt (in Griechenland sind 35.000 Krankenhausstellen abgebaut worden), hat das dramatische Folgen. Wiederum am Beispiel Griechenland: Eine um 40 Prozent gestiegene Kindersterblichkeit.

Jeder dieser Texte ist großer Journalismus. Zusammen genommen machen sie deutlich, welches Disaster die sogenannte „Rettungspolitik“ anrichtet, die hierzulande oft als großzügig empfunden wird. Völlig grotesk ist das auch, weil die ökonomische Begründung der rigorosen Sparpolitik in sich zusammen gefallen ist. Erinnert man sich nun daran, dass der Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten (ein ganz großer Freund des Sparens) jenen Mann zu seinem Sprecher ernannt hat, der für die Griechenland-Hetze der Bild verantwortlich ist, möchte man heulen. Im Übrigen bin ich der Meinung, Pfand gehört daneben.

Disclaimer: Ich arbeite ab und zu für den Süddeutschen Verlag, in dem die oben gepriesenen Artikel erschienen sind.

Update, Februar 2014: Ein neues Paper belegt den Niedergang des griechischen Gesundheitssystems mit dramatischen Zahlen.