Words And Numbers

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Die Grausamkeit der Krise, Teil II

Welche verheerenden Auswirkungen die Troika-Politik auf das griechische Gesundheitssystem hat, war hier ja bereits Thema. Heute erschien in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet ein lesenswertes Paper mit dem Titel „Greece’s health crisis: from austerity to denialism„, das dazu eine Reihe von dramatischen Zahlen enthält. Aus Zeitmangel, und weil das Material gut für sich spricht, folgt nun eine Reihe an Zitaten:

The number of syringes and condoms distributed to drug users fell by 10% and 24%, respectively.14 The number of new HIV infections among injecting drug users rose from 15 in 2009 to 484 in 2012.

State funding for mental health decreased by 20% between 2010 and 2011, and by a further 55% between 2011 and 2012.

Deaths by suicide have increased by 45% between 2007 and 2011.

Researchers from the Greek National School of Public
Health reported a 21% rise in stillbirths between 2008 and
2011.

Und das alles für nichts:

If the policies adopted had actually improved the economy, then the consequences for health might be a price worth paying. However, the deep cuts have actually had negative economic eff ects, as acknowledged by the International Monetary Fund. GDP fell sharply and unemployment skyrocketed as a result of the economic austerity measures, which posed additional health risks to the population through deterioration of socioeconomic factors.

Die Autoren verweisen auf Island als Beispiel dafür, wie eine Schuldenkrise mit harten Sparmaßnahmen bekämpft werden kann, ohne die Gesundheit der Bevölkerung zu ruinieren.

Wem das zu viele Zahlen sind, sei nochmal auf die beiden Reportagen von Alex Rühle vom Juni 2013 verwiesen, in denen die Geschichten dazu erzählt werden.

Die BILD-Zeitung verbreitet währenddessen weiter die dreiste Lüge, die Griechen seien ja viel reicher als wir, was Michalis Pantelouris sehr wütend macht. Und mich auch.

Die Grausamkeit der Krise, zum Nachlesen

Seit Jahren tobt diese sogenannte Krise, und man weiß immer noch nicht so recht, was man von ihr halten soll. In unserer Wahrnehmung kommt die Krise ja hauptsächlich als großes Finanzspektakel daher, da werden Milliarden hin und Rettungspakete her geschoben. Was hab‘ ich damit eigentlich zu tun, fragt man sich ein bisschen. Ist ja alles nur Spielgeld, wie bei Monopoly, denkt man sich ein bisschen.

Im Hinterkopf ist zwar dieser Verdacht: Irgendwie muss das ja auch eine reale, eine handfeste, eine menschliche Dimension haben. Und man hört natürlich auch immer wieder von Jugendarbeitslosigkeit (auch da: hauptsächlich Zahlen), von zunehmenden Selbstmorden und Verzweiflung. Aber eine richtige Vorstellung hat man nicht.

Zum Glück gibt es Journalisten, die in die Welt hinausgehen, die Welt beobachten und anschließend der Welt erzählen, was sie gesehen haben. Ich glaube, in den letzten Jahren hat der deutsche Journalismus das zu wenig gemacht, hat die Krise zu sehr entlang von Troikaberichten und Krisengipfeln begleitet und zu wenig von der Straße aus. Doch in den letzten Wochen hat Alex Rühle, Reporter bei der Süddeutschen Zeitung, mehrere großartige Geschichten aus Griechenland geschrieben – großartig ist natürlich nicht was Rühle erzählt, sondern wie er es erzählt. Der Inhalt ist mit grausam besser beschrieben.

Im ersten Stück geht es um Sisa, die Droge der Krise, zusammengepanscht aus Chrystal Meth und Batteriesäure. Das Zeug sei billig, „ein fast unschlagbares Argument in einem Land, in dem selbst Ärzte nur noch 900 Euro verdienen“. Schonungslos schreibt Rühle auf, was er auf den Straßen gesehen hat, er nennt seine Eindrücke „Elendspolaroids“:

Die junge Frau, die sich von einem strubbeligen Mann mit öligen Fingernägeln einen Schuss unter die Zunge setzen lässt. Der Schwarze mit den weit aufgerissenen Augen, der in einen leeren Betonkübel starrt. Oder die Schwangere mit dem offenen Bein, die mit vier Spritzen in der Hand die Straße runterhumpelt.

Griechische Hilfsorganisationen, berichtet Rühle, würden inzwischen ihre Mitarbeiter aus Afrika abziehen, weil sie im eigenen Land ebenso dringend gebraucht werden.

Im zweiten Text portraitiert Rühle einen Arzt, der sich ehrenamtlich gegen die dramatischen Einsparungen im Gesundheitswesen stemmt. Mit vier Kollegen hat Giorgos Vichas eine Praxis gegründet, sie behandelt dort ehrenamtlich ein paar Tausend der Millionen Griechen, die keine Krankenversicherung mehr haben, und zum Teil auch keinen Strom- oder Wasseranschluss mehr.

Der dritte Text ist keine Reportage, sondern eine Buchbesprechung. Rühle stellt unter der Überschrift „Wenn Sparen tötet“ ein Buch vor, dass sozusagen all das, was er vorher aufgeschrieben hat, wissenschaftlich unterlegt. Die Autoren von „The Body Economic“ beschreibt den Zusammenhang zwischen Sparmaßnahmen und der Gesundheitsversorgung eines Landes – am dramatischen Beispiel von Griechenland, aber auch an Hand vieler historischer Fälle. In Krisenzeiten nehmen Krankheiten zu. Werden gleichzeitig die Gesundheitsausgaben gekürzt (in Griechenland sind 35.000 Krankenhausstellen abgebaut worden), hat das dramatische Folgen. Wiederum am Beispiel Griechenland: Eine um 40 Prozent gestiegene Kindersterblichkeit.

Jeder dieser Texte ist großer Journalismus. Zusammen genommen machen sie deutlich, welches Disaster die sogenannte „Rettungspolitik“ anrichtet, die hierzulande oft als großzügig empfunden wird. Völlig grotesk ist das auch, weil die ökonomische Begründung der rigorosen Sparpolitik in sich zusammen gefallen ist. Erinnert man sich nun daran, dass der Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten (ein ganz großer Freund des Sparens) jenen Mann zu seinem Sprecher ernannt hat, der für die Griechenland-Hetze der Bild verantwortlich ist, möchte man heulen. Im Übrigen bin ich der Meinung, Pfand gehört daneben.

Disclaimer: Ich arbeite ab und zu für den Süddeutschen Verlag, in dem die oben gepriesenen Artikel erschienen sind.

Update, Februar 2014: Ein neues Paper belegt den Niedergang des griechischen Gesundheitssystems mit dramatischen Zahlen.

Die Jugend von Heute – eine Jugend ohne Zukunft?

Über Risiken und Nebenwirkungen einer Generation

[aus presstige #23]

Zu viel Alkohol, zu wenig Manieren. Facebook statt Fußballplatz, Porno statt Picasso. Ist die heutige Jugend schlimmer als jede zuvor? Eine Bestandsaufnahme.

Die erste Zigarette mit neun Jahren, der Vollrausch mit zwölf. Wer sich nicht gerade vom Komasaufen erholt, hängt am Smartphone, schaut Trash-TV oder erstellt Einladungen zu Facebook-Partys. Eine ganze Generation versinkt im Sumpf aus Alkohol, Drogen und ungewollten Schwangerschaften. Kein Wunder, dass der Jugend von Heute keine Zeit mehr für Werte, Anstand und Moral bleibt.

Und es wird immer schlimmer. Inzwischen sind auch die Studenten, ehemals Nachwuchs-Elite der Nation, weit vom rechten Weg abgekommen. Klar, dass bei exzessiver Feierei und unentwegtem Medienkonsum die humboldtsche (oder war es humanistische?) Bildung auf der Strecke bleibt. Professoren diagnostizieren bei ihren Studenten zunehmende Inkompetenz. So stellt Gerhard Wolf, Germanistik-Professor an der Uni Bayreuth, mangelnde Sprachkompetenz bei Erstsemestern fest. Viele Studienanfänger seien nicht in der Lage, den roten Faden eines Textes zu erkennen oder schlüssige Mitschriften aus Vorlesungen anzufertigen. Die Politik-Dozentin Christiane Florin beklagt die Unfähigkeit, alle deutschen Kanzler in der richtigen Reihenfolge aufzuzählen.* Auch mit der Nennung der drei Gewalten seien ihre Studenten überfordert. Während der Bummelstudent der Siebziger seine Bildungslücken wenigstens mit unermüdlichem Einsatz für Gerechtigkeit und Weltfrieden begründen konnte, ist es heutzutage auch mit politischem Engagement nicht mehr weit her. Um es mit den Worten der Band Kraftklub zu sagen: „ Die Welt geht vor die Hunde, Mädchen, traurig aber wahr.“

Das Ende der Welt ist nahe“

Googelt man „die Jugend von heute“, findet man jede Menge lesenswerter Zitate – Beispiel: „Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.“ Mit diesen weisen Worten hat der griechische PhilosophAristoteles um 300 vor Christus den Niedergang prophezeit. Ähnliches findet man bei Sokrates: „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ Noch früher, bereits vor 4000 Jahren, wussten die Leute aus Ur im heutigen Irak, wo das alles hinführt: „Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe.“ Nahe ist natürlich ein dehnbarer Begriff. Aber seltsam ist es schon, dass das Ende gar so lange auf sich warten lässt. Seit 4000 Jahren richtet die Jugend die Welt zu Grunde – und kein Ende in Sicht.

 Weniger Drogen, weniger Gewalt

 Klar, manchmal kann einem schon unbehaglich werden. Etwa beim Anblick bekiffter Zwölfjähriger nachmittags am Badesee, oder angesichts der Videoaufzeichnungen von U-Bahn-Schlägern. Bilder von krassen Einzelfällen stürzen in gewaltigen medialen Flutwellen auf uns ein. Unklar bleibt: Ist die Gesamtlage objektiv schlimmer geworden, oder verschiebt sich nur unsere Wahrnehmung, weil wir zunehmend live dabei sind? Ein Blick auf die Fakten: Laut dem Drogenbericht der Bundesregierung ging der Konsum von Alkohol, Tabak und Cannabis bei Jugendlichen in den letzten zehn Jahren kontinuierlich zurück. Beispielsweise haben 15 Prozent der 12- bis 17-Jährigen im Monat vor der Befragung mindestens einmal fünf oder mehr Gläser Alkohol getrunken – nicht wirklich wenig, aber der niedrigste Wert seit dem Beginn der Statistik 2004. Auch die Jugendkriminalität nimmt seit 2004 jedes Jahr ab, wie die Statistik des Bundeskriminalamts zeigt. Die registrierte Gewaltkriminalität unter den 14- bis 21-Jährigen ging von 2007 bis 2010 um elf Prozent zurück, so der renommierte Kriminologe Christian Pfeiffer.

 Die Sorge um eine verwahrloste Jugend ist so alt wie die Menschheit. Der subjektive Eindruck, es werde immer schlimmer, hält einer Überprüfung jedoch nicht stand. Prinzipiell ist die Jugend immer ein Abbild der Gesellschaft, in die sie hinein geboren wird und in der sie aufwächst. Bei Problemen wie Alkoholmissbrauch wäre es sicher hilfreich, wenn man diese Vorbildfunktion etwas ernster nehmen würde. Dann können wir das Ende der Welt bestimmt noch ein paar Jahrtausende hinauszögern. Im Aufschieben ist die Jugend von Heute nämlich ziemlich unschlagbar.

* Richtige Antwort: Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel.

Ein Prosit der Besoffenheit

Im Rettungsdienst wird ein Funkschlüssel verwendet, um Einsatzmeldungen zu codieren. „Emil-Berta“ steht für eine Entbindung, „Ärger 5“ für eine Geiselnahme. Erhält das Rettungsteam von der Leitstelle die Information „Moritz 3“, handelt es sich um eine Alkoholvergiftung. 2010 mussten mit dieser Diagnose 333.000 Patienten in deutschen Krankenhäusern stationär behandelt werden. Alkoholbedingte Erkrankungen kosteten 74.000 Menschen das Leben. Bei jedem zehnten Verkehrstoten ist Trunkenheit am Steuer die Ursache. Fast ein Drittel aller Gewaltverbrechen wird unter Alkoholeinfluss verübt. 1,3 Millionen Menschen in Deutschland sind alkoholabhängig. Fährt man nachts mit der S-Bahn durch München, kann es passieren, dass man zwischen Urin, Erbrochenem und Raufereien kaum Luft zum Atmen findet.

Exzessiver Alkoholkonsum wird dementsprechend auch immer wieder thematisiert. Unter Überschriften wie „Komasaufen als Jugendmode„, „Kampf gegen Komasaufen“ und „Zahl betrunkener Jugendlicher verdoppelt“ nehmen sich Leitmedien von BILD bis ZEIT der Problematik an. Politiker von der Kommunal- bis zur Bundesebene äußern sich regelmäßig. Die Trinkexzesse werden dabei fast ausschließlich als jugendspezifisches Phänomen diskutiert. Tatsächlich werden die ersten Erfahrungen mit Alkohol immer früher gemacht, müssen immer mehr Minderjährige mit Alkoholvergiftung behandelt werden. Doch das Problem liegt tiefer. Alkoholmissbrauch hat hierzulande viele Gesichter, er findet in allen Teilen und Schichten der Gesellschaft statt. Er ist das verbindende Element vom Obdachlosen zum Operngänger, er eint Müllmänner und Minister. Nicht selten geben sich auf Abschlussfahrten Lehrer und Schüler gemeinsam die Kante. Beim gemeinsamen Trinken werden Freundschaften geknüpft, Geschäfte eingefädelt, Ehen angebahnt. Gesoffen wird auf Volksfesten in der Provinz genauso wie bei den exklusiven Events der High Society. Die Frage ist nicht Sekt oder Selters, sondern Prosecco oder Pils; irgendwas saufen alle. Man könnte sagen: Der Suff hält die Nation zusammen.

Liegt jemand betrunken mit schmutzigen Kleidern und ungepflegten Haaren auf einer Parkbank, gilt er als asozial. Für sich genommen ist Alkoholismus jedoch gesellschaftlich akzeptiert. Wer sich schon vormittags beim Frühschoppen um den Verstand säuft, verkörpert bayerische Lebensart. Mit dem Münchner Oktoberfest steht Deutschland für ein weltbekanntes Großereignis, das allein dem Rausch gewidmet ist und Millionen Besucher anzieht. Letztes Jahr wurden allein dort, neben Unmengen Fleisch, 7,5 Millionen Liter Bier verkauft. Volksfeste, Fußballspiele, Weihnachtsmärkte, Faschingsumzüge, Hochzeiten, Konzerte, Festivals: Nahezu alle Veranstaltungen werden von einem großen Teil der Gäste vornehmlich aufgesucht, um sich zu betrinken. Die Tourismusindustrie befördert jeden Sommer Millionen Deutsche aller Altersklassen an sogenannte Urlaubsorte, deren zweifelhafter Charme nüchtern kaum auszuhalten wäre. Dort macht der Urlauber dann das, was er am besten kann und säuft sich seine Umgebung schön.

Unsere Sprache kennt kein Wort für nicht mehr durstig, stattdessen Begriffe wie Schnapsleiche, tot gesoffen und Bierschiss. Von Sankt Pauli bis Partenkirchen, von Apres-Ski bis Zehn kleine Jägermeister dominiert der Alkohol unsere Kultur und unser Leben. 83 Milliarden Liter Bier trinken wir Deutschen jedes Jahr. Das sind hundert Liter pro Kopf, dabei sind Säuglinge, Straight Edger und andere Abstinenzler nicht herausgerechnet. Wein und Schnaps kommen noch dazu.

An unseren Ampeln hängen Schilder mit der Aufschrift „Nur bei Grün – den Kindern ein Vorbild“, während sich unzählige Väter regelmäßig im Beisein ihrer Kinder voll laufen lassen. Der Politiker Otto Wiesheu fuhr, damals Generalsekretär der CSU, mit 1,8 Promille einen Menschen tot. Er wurde später in Bayern Staatsminister für Wirtschaft und Verkehr (!) und erhielt das Bundesverdienstkreuz. In Bayern finden Wahlkampfveranstaltungen häufig in Bierzelten statt; um den Applaus des alkoholisierten Publikums wird dann auch gern mal mit ausländerfeindlichen Sprüchen gerungen.

Auf jeder Party muss man sich erklären, wenn man ein Glas Wasser trinkt („Ach, musst du heute fahren?“); ballert man sich ins Delirium, ist man der Held. Wer gelegentlich einen Joint raucht, zählt zum arbeitsscheuen Gesindel, wird kriminalisiert und polizeilich verfolgt. Ein anständiger Suff dient der Brauchtumspflege.

Ich bin selbst bei diesem Thema kein Heiliger. Ich trinke auch gerne ein Glas Rotwein oder ein paar Bier. Manchmal auch eins zu viel. Aber diese geballte Sauferei immer und überall, dieser tief in der Gesellschaft verankerte Alkoholismus, bei dem so viele auf der Strecke bleiben, das widert mich mehr und mehr an. Die aktuelle Debatte über Exzesse unter Jugendlichen ist verlogen. Die Jugend bekommt es von den älteren Generationen, von Eltern, Lehrern, Medien und Politik nicht anders vorgelebt. Wenn man etwas gegen „Komasaufen“ unternehmen will, braucht man einen grundlegend anderen Umgang mit Alkohol in unserer Gesellschaft.