Words And Numbers

Autor: cendt (Seite 14 von 19)

First things first

Vorweg vielen Dank für die zahlreichen Kommentare, hier und auf Facebook, zu meinem Artikel „Für echte Bildungsgerechtigkeit„, der genau das wollte: Widerspruch auslösen, eine Debatte anstoßen. Ich möchte hier auf die Kritik eingehen. Es gab in meinen Augen zwei Hauptargumentationen:

  • Meine Feststellung, die Studiengebühren hätten zu spürbaren Verbesserungen der Lehre geführt, wird zurückgewiesen. Ich greife hier vor allem auf persönliche Erfahrungen an der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg zurück. Für diesen Bereich halte ich daran auch fest – vor allem was die sogenannte „Kleingruppenbetreuung“ in Tutorien, Ferienkursen etc betrifft. An anderen Fachbereichen und Hochschulen sieht es vielleicht anders aus. Objektive, belegte Fakten habe ich dazu bei einer, zugegebenermaßen kurzen, Recherche nicht gefunden.
  • Die von mir angeführten Missstände im Sozial-, Schul- und Vorschulsystem seien unabhängig von den Studiengebühren zu sehen. Theoretisch stimme ich dem zu – realpolitisch sieht es – leider – anders aus. Die Finanzmittel sind begrenzt, der Spardruck auf die Haushalte ist hoch. Was zur Kompensation der wegfallenden Studiengebühren an die Unis fließt, fehlt anderswo. Mir fehlt da im Detail der Einblick, aber sowohl in NRW als auch in Baden-Württemberg hat man nach meiner Beobachtung nach dem Regierungswechsel (von schwarz-gelb zu rot-grün bzw. grün-rot) die Studiengebühren abgeschafft und dann festgestellt, dass die Haushaltsspielräume für weitere Bildungsprojekte sehr begrenzt sind (Lehrerstellen, kostenloses Kindergartenjahr, Kitaplätze usw). Darum mein Hinweis auf eine falsche Prioritätensetzung. Das Argument, Studiengebühren hätten besonderen Symbolcharakter (und somit großes Mobilisierungspotential), trifft das Problem: Wir reden von Symbolpolitik. Manch einer möchte gleich noch die Gebühren für Techniker- und Meisterschulen mit abschaffen und  den Spitzensteuersatz erhöhen. Beides halte ich für sinnvoll – ist aber eine andere Baustelle und nicht Gegenstand der Diskussion.

Vielleicht nochmal zur Klarstellung: Ich bin voll und ganz der Meinung, dass eine Welt ohne Studiengebühren eine bessere Welt wäre. Ich meine nur, dass es andere Stellschrauben im Bildungssystem gibt, an denen man dringender drehen muss. Das aus Bayern über Nacht ein bildungs- und gerechtigkeitspolitisches Schlaraffenland wird, ist utopisch. Im Zweifelsfall gilt: First things first.

Über die vermissten Studien, wonach Studiengebühren keinen signifikanten Einfluss auf die Studienneigung einkommensschwacher Bevölkerungsschichten haben, bin ich bei der Recherche sogar gestolpert, habe sie aber aus Schlamperei nicht übernommen. Sie hätten dem Text tatsächlich gut getan. Danke für den Hinweis!

Für echte Bildungsgerechtigkeit

Seit 2005 wurden in sieben Bundesländern Studiengebühren eingeführt, inzwischen sind sie fast überall wieder abgeschafft. Nur in Bayern und Niedersachsen werden die Beiträge noch erhoben. In Niedersachsen stehen im Januar Wahlen an, ein Regierungswechsel mit anschließender Abschaffung der Gebühren ist wahrscheinlich. In Bayern steht nächstes Jahr ein Volksbegehren zum Thema ins Haus. Grund für die regierende CSU, alle bisherigen Überzeugungen über den Haufen zu werfen und dem Volk mit der Abschaffung zuvor zu kommen. Damit sind außer der verzwergten FDP alle bayerischen Parteien gegen Studiengebühren, außerdem der Gewerkschaftsbund und natürlich die Studentenvertretungen. Also quasi alle. Aber muss es deswegen richtig sein?

Fakt ist: Die Studiengebühren haben die Situation an den Hochschulen deutlich verbessert, auch wenn sie zum Teil unsinnig oder gar nicht ausgegeben werden. Es wurden zahlreiche Tutorenstellen geschaffen, um Studenten in Kleingruppen zu betreuen. Zusätzliche Kurse zur Prüfungsvorbereitung wurden ermöglicht, auch die Sachausstattung hat sich verbessert. „Ohne die Gebühren würde es hier anders aussehen“, hat mir erst kürzlich wieder ein Dozent bestätigt. Eine Abschaffung, da sind sich alle einig, macht nur Sinn mit Finanzausgleich aus dem Staatshaushalt.

Das häufigste Argument gegen Studienbeiträge ist Bildungsgerechtigkeit. Hier herrschen in Deutschland katastrophale Zustände, die das Deutsche Studentenwerk regelmäßig in einer Sozialerhebung festhält. Nur 17 Prozent der Arbeiterkinder nehmen ein Studium auf, beim Nachwuchs von Selbstständigen und Beamten sind es je über 60 Prozent. Die working class stellt  vierzig Prozent der Bevölkerung, aber nur 20 Prozent der Studienanfänger. Über ein Viertel der Bevölkerung hat keine Berufsausbildung – aus dieser Gruppe stammen nur zwei Prozent der Studenten. Über die Hälfte der Studenten hat einen Vater, der ebenfalls schon studiert hat. Wer greifbare Eindrücke lieber mag als nackte Zahlen (oder sich einfach für teure Autos begeistert), dem empfehle ich einen Spaziergang über den Parkplatz einer Universität. Höhere Bildung ist in Deutschland nach wie vor hauptsächlich eine Veranstaltung der Mittel- und Oberschicht. Unser Bildungssystem sorgt dafür, dass die viel zitierte Schere zwischen Arm und Reich weit geöffnet bleibt.

Chinesisch im Kindergarten

Aber: Das liegt nicht an den Studiengebühren. Die Selektion findet viel früher statt. Von 100 Kindern mit Akademiker-Eltern erreichen 71 Abitur – Bei Kindern mit nicht-akademischem Background schaffen das gerade mal 24.  In einem Kindergarten in Berlin-Neukölln oder Augsburg-Oberhausen muss in der Regel erstmal die deutsche Sprache vermittelt werden. Die Villa Ritz, ein Kindergarten in Potsdam, schreibt auf ihrer Homepage: „Deutsch und Englisch sind Verkehrssprachen. Chinesisch ergänzt das Fremdsprachenangebot.“ Die Schere klafft schon vor der Einschulung weit auseinander.

Die Förderung sozial schwacher Kinder ist nicht nur aus Gründen der Chancengleichheit wichtig. Deutschland kann es sich wirtschaftlich auch einfach nicht leisten, dieses Potential weiter zu verschwenden. Aber dann muss man früh damit anfangen. Mit mehr Lehrern, besseren Schulen, Ganztagsangeboten. Im Prinzip müsste man direkt bei der Ghettoisierung von Arm und Reich ansetzen. Das alles kostet Geld. Geld, dass man lieber für Geschenke ans Bildungsbürgertum einsetzt. So wie in Baden-Württemberg: Dort hat die grün-rote Landesregierung die Studiengebühren abgeschafft – und 11.600 Lehrerstellen gestrichen. Das ist absurd.

Geschenk für Wohlhabende

Man kann über eine Senkung der Studiengebühren nachdenken. Man kann die Befreiungsmöglichkeiten für sozial schwache ausbauen. Man kann Modelle diskutieren, bei denen die Gebühren erst ein paar Jahre nach der Ausbildung fällig werden, ähnlich dem BAFÖG. Die Studenten sollten stärker an der Entscheidung über die Verwendung der Mittel beteiligt werden. Vielleicht kann man Studiengebühren auch irgendwann abschaffen. Das wäre schön. Aber zur Zeit wird das Geld anderswo dringend gebraucht. Solange es Migranten und Arbeiterkinder in Deutschland nur in Ausnahmefällen zum Abitur schaffen, ist ein kostenloses Studium ein Geschenk für Wohlhabende. Oder mit den Worten von Karl Marx: „Wenn in einigen Staaten höhere Unterrichtsanstalten unentgeltlich sind, so heißt das faktisch nur, den höheren Klassen ihre Erziehungskosten aus dem allgemeinen Steuersäckel zu bestreiten.“ Der Bildungsjournalist Christian Füller schreibt in der taz: „Asta-Fritzen kämpfen im Che-Guevara-T-Shirt für ein vermeintlich kostenloses Studium. In Wahrheit aber sind sie die Vorhut reicher Ärzte-, Anwälte- und Redakteurskinder, die Papis Kohle weiter in Skiurlaube stecken wollen.“

Freie Bildung für alle ist ein schöner und richtiger Slogan. Von den vielen Hürden auf dem Weg vom Arbeiterkind zum Prof. Dr. sind Studiengebühren allerdings die niedrigste. Dieser Text ist er ist ein Plädoyer gegen Populismus und für echte Bildungsgerechtigkeit.

Update: Hier in den Kommentaren und auf Facebook wurde einige Kritik geäußert, auf die ich in einem eigenen Beitrag eingehe.

Eine neue Definition von Coolness

Es gibt ein Buch, das mich als Teenager sehr begeisterte und mein Weltbild entscheidend geprägt hat. In der Annahme, dass meine damalige Begeisterung viel mit jugendlicher Naivität zu tun hatte, habe ich das Buch kürzlich nochmal gelesen. Vielleicht bin ich immer noch naiv, aber der Text hat mich erneut begeistert und inspiriert.

Es geht um  „CULTURE JAMMING. Das Manifest der Anti-Werbung“. Kalle Lasn, der Autor, wurde in Estland geboren und lebt inzwischen in Vancouver. Er ist Begründer des Adbusters Magazine und einer der führenden Köpfe von Occupy Wallstreet. Das zentrale Thema dieses sehr wütenden Buchs ist der Konsumkapitalismus, der uns einer ständigen Gehirnwäsche namens Werbung unterzieht und den Planeten vor die Hunde bringt. So fängt es an:

„Das Buch, das Sie in der Hand halten, hat eine Mission, der Sie zunächst einmal instinktiv misstrauen werden. Die Botschaft lautet: Wir können die Welt verändern. Ein gewagtes Versprechen in unserer Zeit, denn es klingt wie ein sinnloser Werbeslogan, wie eine Platitüde aus dem „Weck den Tiger in dir“-Regal.“

Lasn beschreibt, wie die Macht der Konzerne im letzten Jahrhundert unheimliche Ausnahme erreicht hat und längst die Macht der Menschen übersteigt, die sie geschaffen haben. Er schildert die Manipulation, die omnipräsente Werbung, Sponsoring und Product Placement in unseren Gedanken erzeugt haben. Er thematisiert die Auswirkungen dieser Konsummaschinerie auf die Umwelt und auf unsere Psyche. Lasn benennt nicht nur Probleme, er ruft zum Kampf auf:

„Culture Jamming bezeichnet eine subversive kulturelle Praxis, eine Rebellion gegen die Inbesitznahme öffentlicher Räume durch Industrie und Kommerz. Culture Jamming versteht sich als Sand im Getriebe der alles verheißenden und nichts erfüllenden Werbeindustrie.“

Lasn selbst führt diesen Kampf mit seiner Adbusting Media Foundation durch professionelle Anti-Werbung: Die Symbolik der Werbung wird kopiert, aber die Bedeutung umgekehrt. Man sieht dann zum Beispiel Joe Camel, das Kamel der Camel-Werbung, umgetauft als Joe Chemo auf der Krebsstation liegen. Ein schönes Beispiel ist auch dieser Greenpeace-Spot:

CULTURE JAMMING ist eine gute Grundlage, um darüber zu diskutieren wie eine bessere Welt aussehen könnte. Ich versuche mal, den Kern des Problems aus meiner Sicht zu beschreiben.

Es gibt eine gigantische Machtverschiebung von demokratisch gewählten Regierungen zu kapitalgesteuerten Konzernen. Unter den 100 größten Wirtschaftsmächten der Erde sind 43 Unternehmen. Spätestens die Finanzkrise 2008 ff hat gezeigt, wer die Zügel in der Hand hält. Systemrelevant und alternativlos sind die Unwörter der Epoche und zeigen, dass die Staaten dem Wirtschaftsgeschehen ziemlich hilflos gegenüber stehen. Die Gipfeltreffen im Namen von G8, EU et cetera haben längst nur psychologische Bedeutung zur Beruhigung der wild gewordenen Kräfte des Marktes. Wurde bei der Mondlandung 1969 noch die Flagge der Vereinigten Staaten gehisst, stand bei Baumgartners Stratosphärensprung alles im Zeichen des Red-Bull-Logos. Wir sind inzwischen pausenlos mehr oder weniger subtilen Werbebotschaften ausgesetzt. Neben herkömmliche Werbekonzepte wie Plakattafeln und Anzeigen in Magazinen sind alle möglichen neuen Kanäle getreten, die uns beinahe pausenlos bearbeiten. Das Werbebanner auf Spiegel Online, gekaufte Beiträge auf Facebook, das auf Augenhöge angebrachte Poster über dem Pissoir, die geschickt plazierten Produkte in Skyfall, das Markenlogo auf dem Shirt deines Kumpels, das kleine Schild auf den Monitorboxen bei Rock am Ring. Keiner weiß genau, was dieses Dauerbombardement in unseren Köpfen anstellt, aber wenn es keine Wirkung hätte, würde die Wirtschaft dafür keine Milliardenbeträge ausgeben. Allein ein 30-Sekunden-Spot während der Übetragung des Super Bowl 2011 kostete drei Millionen Dollar.

Diese Manipulation für sich genommen könnte man als zwar nervig, aber nicht weiter bedrohlich ansehen. Aber: Die Aktivitäten der Konsumindustrie haben handfeste ökologische und soziale Auswirkungen. Was wir als Wirtschaftswachstum bezeichnen, ist nichts anderes als die großangelegte Vernichtung von Ökosystemen. Zur Befriedigung unseres Mobilitätsbedürfnisses veranstalten die Erdölkonzerne etwa im Nigerdelta ein ökologisches Desaster und zerstören die Lebensgrundlage der Bevölkerung. Die Rohstoffe für unsere Handys und Notebooks werden teilweise von Kindersklaven gefördert. Der Produktion der 30.000 Tonnen Fleisch, die McDonald’s allein in Deutschland jedes Jahr verbrät, fallen nach wie vor Regenwälder zum Opfer. Die mit einem ziemlich postiven Image gesegneten Hersteller von Outdoor-Kleidung verarbeiten laut einer neuen Studie eine Menge giftiger Chemikalien.

Wir werden zur Bestreitung unseres Lebens immer gewisse Güter verbrauchen. Das System des Konsumkapitalismus ist jedoch darauf ausgelegt, dass wir unseren Verbrauch maximieren, ohne Rücksicht auf die ökologischen und sozialen Folgen.

Wenn man sich mit den oben angeschnittenen und weiteren Themen beschäftigt, entwickelt man Wut. Diese Wut kann man kanalisieren und in positive Energie umwandeln, um die von den Konzernen geschaffene Kultur zu jammen. Dazu braucht es keine aufwendigen Adbusting-Kampagnen. Es gibt viele Möglichkeiten, sich der Gleichschaltung des Kaufens zu widersetzen. Anfangen könnte man zum Beispiel mit einer Demaskierung von Red Bull. Zuerst brauchen wir eine neue Definition von Coolness. Längst gibt uns die Industrie vor, was es bedeutet cool zu sein. Ich bin für Individualitität, Kreativität und Spontanität als Säulen einer neuen Coolness, die man nicht kaufen kann. Ich habe Bock auf ein bisschen Revolution. Wer ist dabei? Meldet euch.

Wir sind Idealisten, Anarchisten, Guerillataktiker, Schwindler, Witzbolde, Maschinenstürmer der Neuzeit, Nörgler und Punks. Wir sind der pöbelnde Überrest einer Gegenkultur. Was uns verbindet, ist eine grenzenlose Wut gegen den Konsumkapitalismus und das Gefühl, dass die Zeit gekommen ist, um gemeinsam zu handeln.

  • Kalle Lasn: Culture Jamming. Das Manifest der Anti-Werbung. orange press 2006
  • Klaus Werner-Lobo und Hans Weiss: Das neue Schwarzbuch Markenfirmen. Ullstein 2010
  • www.konsumpf.de
  • www.adbusters.org
  • www.greenpeace.de

Politisches Doping

Okay, das Thema „Demokratiedefizite bei der CSU“ ist etwa so originell wie ein Witz von Mario Barth. Man meint irgendwie, darüber hat man schon alles gehört, da kommt nichts neues mehr. Aber als Parteisprecher direkt beim ZDF anzurufen um Berichterstattung über die Opposition zu verhindern, ist schon ein bisschen arg krass, oder? Da hat ja Wladmir Putin subtilere Wege der Medienmanipulation auf Lager. Wollten die FJS-Erben auf diese Art 50 Jahre Spiegel-Affäre feiern?  Ich schlage jedenfalls vor, der CSU die letzten sieben Wahlsiege abzuerkennen.

Die Jugend von Heute – eine Jugend ohne Zukunft?

Über Risiken und Nebenwirkungen einer Generation

[aus presstige #23]

Zu viel Alkohol, zu wenig Manieren. Facebook statt Fußballplatz, Porno statt Picasso. Ist die heutige Jugend schlimmer als jede zuvor? Eine Bestandsaufnahme.

Die erste Zigarette mit neun Jahren, der Vollrausch mit zwölf. Wer sich nicht gerade vom Komasaufen erholt, hängt am Smartphone, schaut Trash-TV oder erstellt Einladungen zu Facebook-Partys. Eine ganze Generation versinkt im Sumpf aus Alkohol, Drogen und ungewollten Schwangerschaften. Kein Wunder, dass der Jugend von Heute keine Zeit mehr für Werte, Anstand und Moral bleibt.

Und es wird immer schlimmer. Inzwischen sind auch die Studenten, ehemals Nachwuchs-Elite der Nation, weit vom rechten Weg abgekommen. Klar, dass bei exzessiver Feierei und unentwegtem Medienkonsum die humboldtsche (oder war es humanistische?) Bildung auf der Strecke bleibt. Professoren diagnostizieren bei ihren Studenten zunehmende Inkompetenz. So stellt Gerhard Wolf, Germanistik-Professor an der Uni Bayreuth, mangelnde Sprachkompetenz bei Erstsemestern fest. Viele Studienanfänger seien nicht in der Lage, den roten Faden eines Textes zu erkennen oder schlüssige Mitschriften aus Vorlesungen anzufertigen. Die Politik-Dozentin Christiane Florin beklagt die Unfähigkeit, alle deutschen Kanzler in der richtigen Reihenfolge aufzuzählen.* Auch mit der Nennung der drei Gewalten seien ihre Studenten überfordert. Während der Bummelstudent der Siebziger seine Bildungslücken wenigstens mit unermüdlichem Einsatz für Gerechtigkeit und Weltfrieden begründen konnte, ist es heutzutage auch mit politischem Engagement nicht mehr weit her. Um es mit den Worten der Band Kraftklub zu sagen: „ Die Welt geht vor die Hunde, Mädchen, traurig aber wahr.“

Das Ende der Welt ist nahe“

Googelt man „die Jugend von heute“, findet man jede Menge lesenswerter Zitate – Beispiel: „Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.“ Mit diesen weisen Worten hat der griechische PhilosophAristoteles um 300 vor Christus den Niedergang prophezeit. Ähnliches findet man bei Sokrates: „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ Noch früher, bereits vor 4000 Jahren, wussten die Leute aus Ur im heutigen Irak, wo das alles hinführt: „Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe.“ Nahe ist natürlich ein dehnbarer Begriff. Aber seltsam ist es schon, dass das Ende gar so lange auf sich warten lässt. Seit 4000 Jahren richtet die Jugend die Welt zu Grunde – und kein Ende in Sicht.

 Weniger Drogen, weniger Gewalt

 Klar, manchmal kann einem schon unbehaglich werden. Etwa beim Anblick bekiffter Zwölfjähriger nachmittags am Badesee, oder angesichts der Videoaufzeichnungen von U-Bahn-Schlägern. Bilder von krassen Einzelfällen stürzen in gewaltigen medialen Flutwellen auf uns ein. Unklar bleibt: Ist die Gesamtlage objektiv schlimmer geworden, oder verschiebt sich nur unsere Wahrnehmung, weil wir zunehmend live dabei sind? Ein Blick auf die Fakten: Laut dem Drogenbericht der Bundesregierung ging der Konsum von Alkohol, Tabak und Cannabis bei Jugendlichen in den letzten zehn Jahren kontinuierlich zurück. Beispielsweise haben 15 Prozent der 12- bis 17-Jährigen im Monat vor der Befragung mindestens einmal fünf oder mehr Gläser Alkohol getrunken – nicht wirklich wenig, aber der niedrigste Wert seit dem Beginn der Statistik 2004. Auch die Jugendkriminalität nimmt seit 2004 jedes Jahr ab, wie die Statistik des Bundeskriminalamts zeigt. Die registrierte Gewaltkriminalität unter den 14- bis 21-Jährigen ging von 2007 bis 2010 um elf Prozent zurück, so der renommierte Kriminologe Christian Pfeiffer.

 Die Sorge um eine verwahrloste Jugend ist so alt wie die Menschheit. Der subjektive Eindruck, es werde immer schlimmer, hält einer Überprüfung jedoch nicht stand. Prinzipiell ist die Jugend immer ein Abbild der Gesellschaft, in die sie hinein geboren wird und in der sie aufwächst. Bei Problemen wie Alkoholmissbrauch wäre es sicher hilfreich, wenn man diese Vorbildfunktion etwas ernster nehmen würde. Dann können wir das Ende der Welt bestimmt noch ein paar Jahrtausende hinauszögern. Im Aufschieben ist die Jugend von Heute nämlich ziemlich unschlagbar.

* Richtige Antwort: Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel.

Der beste Platz am Pool

Was über die Deutschen gedacht wird – vom Sinn und Unsinn der Vorurteile

[aus presstige #23]

Fleißig, pünktlich und diszipliniert. Verkrampft, arrogant und geizig. Bewundert für Braukunst und Mercedes-Benz, zugleich belächelt wegen mangelndem Humor und „German Angst“. So oder ganz anders stellt man sich da draußen in der Welt den „typischen Deutschen“ vor. Was ist wirklich dran an Klischees und Stereotype? Sind sie nützliche, weil oft zutreffende Orientierungshilfen im Umgang mit fremden Kulturen oder pauschaler, diskriminierender Unsinn?

Klischees sind vorgeprägte Wendungen, die ohne individuelle Überzeugung einfach unbedacht übernommen werden“, so kann man es im Sachwörterbuch der Literatur nachlesen. Vorgeprägt, ohne Überzeugung, unbedacht übernommen – soweit klar. Aber vielleicht dennoch mit wahrem Kern? Dazu muss man zunächst in Erfahrung bringen, welche Eigenschaften den Deutschen konkret zugeschrieben werden.

Eine kurze Umfrage unter Bekannten aus verschiedenen Ländern soll Orientierung geben. Bei einer Charakterisierung stehen Stichwörtern wie ordentlich, strukturiert, förmlich im Umgang ganz oben. Weiter: Hart arbeitend, direkt und zupackend. Auch Folklore (Tracht, Bier, Blasmusik) scheint für uns Deutsche typisch zu sein. Einem Freund aus den USA ist aufgefallen, dass man in Deutschland eher einen Hund als ein Kleinkind mit ins Restaurant bringen könne. Im Internet stößt man andauernd auf die alte Geschichte mit den Badetüchern, die von deutschen Touristen schon frühmorgens auf dem Liegestuhl platziert werden, um diesen zu reservieren.

Mentalitäten schuld an Wirtschaftskrise?

Man könnte das ganze Thema für überflüssig und längst überholt halten, doch gerade in diesen Monaten ist es hochaktuell. Im Zuge der Euro-Krise wird diskutiert, ob germanische Arbeitswut auf der einen und mediterrane Disziplinlosigkeit auf der anderen Seite Schuld sind am wirtschaftlichen Nord-Süd-Gefälle in der EU. Geht es dabei um eine mehr oder weniger gelungene Regierungsführung, also um die Arbeit einiger Spitzenpolitiker – oder um Mentalitätsunterschiede in den europäischen Völkern? Wäre letzteres der Fall, so bräuchten die Krisenvölker ein bisschen mehr von den deutschen Tugenden, und es ginge wieder aufwärts. Im Gespräch mit Italienern kann man tatsächlich diesen Eindruck bekommen. Egal ob junge Akademiker, Handwerker, Geschäftsleute oder Rentner wie Vincenzo, der 40 Jahre Gastarbeiter in Deutschland war und im Ruhestand nach Neapel zurückkehrte, wo ich ihn auf der Straße traf: Alle verzweifeln am italienischen Wahnsinn, an Chaos und Unzuverlässigkeit. Und als Gegenmodell, als leuchtendes Vorbild in Sachen Ordnung und Fleiß wird immer wieder Deutschland genannt. Viele der Jüngeren liebäugeln mit einem Umzug über die Alpen, auf der Suche nach einer beruflich besseren Zukunft.

Spießertum und Tagesschau

Wären sie dann wirklich so begeistert vom deutschen Alltag? Oder enttäuscht von Hektik, Spießertum und Bordsteinen, die außerhalb der Metropolen spätestens zur Tagesschau um 20.00 Uhr hochgeklappt werden? Es gibt eben immer zwei Seiten, und dem gängigen Klischee nach kann man im Norden zwar besser arbeiten, dafür versteht man es im Süden gut zu leben.

Vielleicht sind die Unterschiede in Wahrheit gar nicht so groß. Kann man denn heutzutage überhaupt noch von nationalen Eigenheiten reden, sind sie nicht durch Vernetzung, Austauschprogramme und Einwanderung längst verblasst? Wird die nationale Identität, in der sich die Charakterzüge unserer Vorfahren spiegeln, nicht überlagert durch den Einfluss von türkischstämmigen Schulfreunden, Thailand-Reisen und amerikanischen Filmen? Wie oft gibt es ihn noch, den typischen Deutschen: Konservativ, fleißig und auf den besten Liegestuhl am Pool erpicht?

Eigentlich ist das alles großer Quatsch. Aber, und das klingt jetzt wie eine Weisheit von Lothar Matthäus: Deutschland ist nicht Italien. Natürlich gibt es nationale Eigenheiten – und darauf beruhen, verallgemeinert und zugespitzt, unsere Klischees. Würden die Leute überall gleich ticken, bräuchten wir nicht mehr verreisen, und die Welt wäre ziemlich langweilig. Mit Klischees ist es eben wie mit Lothar Matthäus: Kein Mensch braucht sie, aber ohne hätte man wesentlich weniger zu lachen. Man darf das alles einfach nicht so ernst nehmen.

Am Hafen bellt ein Hund

Notizen aus Barcelona

montejuic view

Wir steigen am Plaza de Catalunya aus dem Bus, der erste Gang führt die Ramblas hinunter zum Mercat de la Boqueria. Hier gibt es alles, was die katalanische Landwirtschaft und Fischerei zu bieten haben, Obst und Gemüse in allen Farben und Formen, Käse, Fisch, Meeresfrüchte, Schinken und alle erdenklichen tierischen Organe.

boqueria chili

Dann streifen wir ziellos durch die Gassen der Altstadt. In diesem Labyrinth findet man sich auch nach Tagen noch nicht zurecht, kommt immer wieder durch Zufall an schon bekannten Stellen vorbei. Wegen der hohen Kriminalität hat hier jedes Geschäft außerhalb der Öffnungszeiten einen schweren, eisernen Rollladen vor dem Schaufenster. Viele haben darauf das Firmenlogo oder ein anderes Grafitty sprühen lassen, so dass man während der Siesta viel gelungene Streetart bewundern kann. Und Streetwork: Ein Mann sitzt auf dem Boden, aus alten Getränkedosen macht er bunte Aschenbecher und verkauft sie für einen Euro. Man findet es fast schade, Nichtraucher zu sein.

boqueria cargo

Abends sitze ich auf einer Mauer auf dem Montjuic und genieße den gigantischen Blick über die Lichter der Stadt. In der Ferne ein Feuewerk in rot und blau, in den selben Farben leuchtet der gurkenförmige Torre Agbar. Aus dem Grundrauschen des Straßenlärms heben sich Polizeisirenen und aufheulende Motorräder hervor. Irgendwo am Hafen bellt ein Hund. Neben mir taucht eine Horde Volltrottel auf, macht Lärm und fotografiert das Panorama mit Blitz (!), doch auch das kann mich nicht wirklich stören, so magisch beruhigend ist dieser Ort. Schon bei meinem ersten Besuch in Barcelona war hier mein Lieblingsplatz.

streetart

Es gibt viele wunderbare Plätze in dieser Stadt. Auch die Sagrada Familia und die Kathedrale, in deren Innenhof Gänse leben, sind wirklich beeindruckend. Nur ist es da und anderswo derart mit Touristen überlaufen, dass man hoffnungslos in ihrem Strom ertrinkt, keine Chance hat, den Ort auf sich wirken zu lassen. Besonders schlimm im Park Guell. Solche Menschenmassen bin ich bereit für eine wirklich gutes Konzert zu ertragen, nicht aber für eine Ansammlung bemalter Steine.

barceloneta beaach

Rechts der Ramblas liegt das Viertel El Raval, in dem die Barceloneser Schatten- und Unterwelt zu Hause ist. Plötzlich rennen vier oder fünf dunkelhäutige Männer an uns vorbei, jeder ein großes, weißes Bündel unter dem Arm, Straßenhändler auf der Flucht. Oft sieht man sie an den touristisch stark frequentierten Plätzen stehen, die weißen Tücher auf dem Boden ausgebreitet, darauf Handtaschen mit Prada- oder Gucci-Logo. An jede Ecke des Tuchs ist ein Faden gebunden, die Enden halten sie in der Hand, immer bereit zum Weglaufen vor der Polizei. Im Raval entdecken wir die Biblioteca de Catalunya mit ihrem palmenbewachsenen, von Säulengängen eingeschlossenen Innenhof. Hier sitzen die Barceloneser zum Lesen und Diskutieren, spielen Gitarre oder Schach. Ich geselle mich mit meinem Buch dazu, ein neuer Lieblingsort ist gefunden.

barceloneta chiller

Noch ein Lieblingsort ist selbstverständlich der Platja de la Barceloneta, der zum gleichnamigen Viertel gehörende Sandstrand. Barceloneta ist das ehemalige Fischer- und Arbeiterviertel. Im Zuge der Olympischen Spiele 1992 wurde es renoviert und aufgewertet, ist aber immer noch eher arm und, abgesehen vom Strand, touristisch kaum erschlossen. Und somit interessant. Hier kann man in aller Ruhe durch die Gassen schlendern, Tapasbars und Fahrradgeschäfte erkunden. Im Kontrast zur bescheidenen Architektur und Lebensweise des Viertels steht das mit fünf Sternen dekorierte „W Hotel“, ein gigantischer Glasturm in Form eines Segels, eine Art Burj al Arab in Nicht-ganz-so-groß. Blickfang am Strand ist das Bauwerk L’estel ferit, Verwundeter Stern. Ein aus schief aufeinandergestapelten, rostbraunen Kästen bestehender Turm, hier chillen die Chiller der Stadt.

w hotel

Unterwegs im Bus, alle Sitzplätze sind belegt. Eine alte Frau steigt ein. Sofort springt vorne einer auf, bietet ihr seinen Platz an. Sie winkt ab und geht weiter, der nächste steht auf. Wieder lehnt die Dame ab. Am Ende sind fünf Männer aufgestanden bis ihr Wunschplatz frei wird, den sie dann dankend annimmt, samt dem gegenüberliegenden, zum Füße hochlegen. Alle bleiben freundlich, nur ein Fahrgast verdreht mir gegenüber kaum merklich die Augen.

barceloneta bikes

Am letzten Tag gehe ich nochmal zum Mercat de la Boqueria und kaufe Obst. Ich esse neben einem alten Mann, er vertickt ein paar Souvenierartikel. Niemand interessiert sich für seine Ware, er scheint selbst nicht daran zu glauben, etwas zu verkaufen, macht das wohl mehr zum Zeitvertreib. Als ich weiterziehe, habe ich noch eine Zeitlang sein monotones „Barcelona, Barcelona, Gaudí, Gaudí“ im Ohr.

chaos

walk the dog

Über 2000 Zebrastreifen von A nach B

„It is by riding a bicycle that you learn the contours of a country best, since you have to sweat up the hills and can coast down them… Thus you remember them as they actually are, while in a motorcar only a high hill impresses you, and you have no such accurate remembrance of country you have driven through as you gain by riding a bicycle.“

Ernest Hemingway

Regen. Ich will erzählen von einer Reise nach Süden, einer Reise zum Meer, von Abenteuerlust und Freiheitsdrang. Und die Geschichte beginnt mit Regen. Zwei Tage lang Regen, fast ohne Unterbrechung.

Seppois-le-Bas

Wir wollen mit dem Fahrrad von A nach B fahren, genauer: Von Augsburg nach Barcelona. Quer durch Süddeutschland nach Basel, an der Rhône entlang durch Frankreich und ab Montpellier an der Küste nach Spanien. 19 Tage haben wir Zeit, dann geht der Rückflug. Schön wäre: Früher ankommen und noch ein paar Tage Barcelona erleben. Wir sind zu zweit, ein eingespieltes Team, seit vielen Jahren gemeinsam auf dem Rad unterwegs. Eine Tour dieser Länge ist allerdings für beide Neuland.

Los geht es durch die schwäbische Provinz. Das Gepäck und wir sind einigermaßen wasserfest, so radeln wir Richtung Westen. Optisch passt das Wetter zur Landschaft, die Regentristesse steht der Gegend gut. Mittags retten wir uns in eine Dorfwirtschaft und wärmen uns an einer heißen Suppe. Am Nebentisch wird Jägermeister bestellt, das dazugehörige Gesicht fängt ein Gespräch an. „Nach Spanien? Wirklich? Also, ich hab zwar auch ein Fahrrad…“ Nachmittags läuft es nochmal gut und wir schaffen unser Tagespensum. Das Zelt bleibt an diesem Abend noch in der Tasche, wir quartieren uns im Gasthof zum Löwen ein.

Ain

Am nächsten Morgen serviert man uns ein ordentliches Frühstück, gestärkt brechen wir auf und treten durchs Einheitsgrau. Wir streifen den Bodensee und fahren am Rhein entlang durch deutsch-schweizerisches Grenzgebiet, wo auf beiden Seiten das Preisniveau der Schweiz herrscht. Kurz vor Schaffhausen nehmen wir auch heute ein Zimmer.

Am dritten Tag ist der Himmel noch grau, der Regen hat aufgehört. Auf einem hervorragenden Radweg rollen wir durch ein idyllisches Tal, dann wieder am Rhein entlang nach Basel, wo sich sogar für einen Moment die Sonne zeigt. Basel macht einen sympathischen Eindruck, erstmals sehen wir Radfahrer in nennenswerter Zahl. Um zehn vor vier überqueren wir die Grenze nach Frankreich. Das erste Bonjour, zugerufen von einem entgegenkommenden vélo, klingt herrlich in unseren Ohren. Auf einer kaum befahrenen Straße geht es durch eine hügelige, verschlafene Landschaft. Ich habe mir zum Zeitvertreib einen Handzähler an den Lenker montiert. Die ersten beiden Tage ist mir dafür keine Verwendung eingefallen; seit heute zähle ich alle Zebrastreifen, über die wir fahren. Am Ende des Tages zeigt der Zähler 62. In Seppois-le-Bas kommt unser Discounter-Zelt zu seinem ersten Einsatz. Der Ort ist menschenleer und im Verfall begriffen, im einzigen Restaurant bekommen wir allerdings ein hervorragendes Abendessen. Dazu eine Orangina, alles serviert von sehr freundlichen Menschen. Frankreich hat nach wenigen Stunden mein Herz erobert.

La Vuelte

Tag Nummer vier: Spätestens jetzt sind wir warm gefahren, das Wetter wird merklich besser, es läuft. Die heutige Etappe enthält einige Steigungen, die mit entsprechenden Abfahrten belohnt werden. Die letzten zehn Kilometer bis Pontarlier hängen wir uns in den Windschatten eines Traktors mit großem Anhänger. So haben wir zwar mangels Sicht kaum noch eine Chance den vielen Schlaglöchern auszuweichen, dafür geht es mühelos mit gut 30 Stundenkilometern dahin. Pontarlier wäre eine schöne Stadt, ist abends aber leider völlig ausgestorben. Im Hostel sind wir nahezu die einzigen Gäste.

La Vuelte

Am folgenden Tag kommen wir morgens erst gegen zehn los und lassen uns um halb zwölf schon wieder zur Brotzeit nieder. Am frühen Nachmittag folgt ein Café-Stopp auf dem Place du 11 Novembre in Lons-le-Saunier. Um aus dieser Stadt wieder rauszufinden, müssen wir in einem Fahrradgeschäft nach dem Weg fragen. „Vous parlez ingles?“ – „No, mais je parle très bien francais.“ Er sagt das auf eine sehr charmante Art. À droite und À gauche verstehe ich dann auch und wir finden den Weg auf Anhieb. Dieser führt einen sehr steilen Berg hinauf nach Montaigu, ein idyllisches kleines Dörfchen, mit einer Kirche aus dem 13. Jahrhundert. Egal, wir müssen jetzt Strecke machen, nonstop geht es weiter. Auch Orgelet hätte vielleicht mehr als Durchrollen verdient, auch hier steigen wir nicht ab. Einige Abfahrten später erreichen wir die Ain-Schlucht, zwischen mächtigen Felswänden vom gleichnamigen Fluss durchflossen. In dichten Wäldern liegen winzige, aus der Zeit gefallene Ortschaften. Sähe man keine Autos, man wähnte sich in den 1920er Jahren. Als wir gegen dreiviertel Neun noch auf ein Bier in die Kneipe wollen, macht diese gerade dicht. Also endet der Tag mit einem Stück Schokolade und einer Dose Orangina vor dem Zelt. Eine absolute Grundvoraussetzung für solche Touren: Man muss sich an den kleinen Dingen erfreuen können, mehr ist manchmal einfach nicht drin.

Pont du Gard

In Belly machen wir die Bekanntschaft eines älteren Radreisenden aus Lyon. Er schimpft uns, weil wir nur Kilometer runterspulen und uns kaum Zeit nehmen, das schöne Frankreich zu besichtigen. Seine wohlwollende Kritik ist vielleicht berechtigt, aber in jede Dorfkirche reinzurennen ist nicht unser Ding. Was wir auch so feststellen: Die Franzosen sind ein edles Volk, freundlich und zuvorkommend.

Am siebten Tag fahren wir durch eine besonders arme Gegend. Viele Häuser stehen leer oder zum Verkauf, die Fenster vernagelt. Der Aufruf „Votez Le Pen“ lässt sich auf vielen Mauern lesen. Gegen Mittag erreichen wir Voiron nach einer rasanten Abfahrt, mein Tacho zeigt fast 70. Uns steht ein Ruhetag bevor, heute wollen wir nochmal ordentlich voran kommen. Nach 150 Kilometern erreichen wir La-Voulte-sur-Rhône und quartieren uns auf einem Campingplatz in der Nähe ein. Insgesamt haben wir nach einer Woche 960 Kilometer geschafft, den Ruhetag haben wir uns verdient.

Beziers

Unseren freien Vormittag verbringen wir in La-Vuelte-sur-Rhône. Wir sitzen entspannt im Straßencafé, schlendern über den Wochenmarkt, streifen durch die Gassen der Altstadt. Abends radeln wir zu einer Pizzeria; so kommen auch am Ruhetag 30 Kilometer zusammen. Wir liegen aber gut in der Zeit, die nächsten Tage können wir ruhiger angehen lassen.

Dementsprechend beenden wir die achte Etappe schon um halb vier. Beim letzten Anstieg macht mir die Hitze zu schaffen, nach der Ankunft flüchte ich mit meinem Buch in den Schatten. Als es kühler wird besichtigen wir den imposanten Pont du Gard, ein Aquädukt aus Römertagen. Beim Abendessen treffen wir Radtouristen aus England. Nach eigener Aussage liegt ihr Schwerpunkt allerdings beim Trinken, erst an zweiter Stelle kommt das Radeln.

danger zone

An einem herrlichen Sonntagmorgen machen wir uns auf den Weg, heute wollen wir das Meer erreichen. Leider sind wir mit diesem Plan nicht allein, im Großraum Montpellier ertränkt uns eine Autoflut. Allein der Lärm macht irre. Der gesamte Städtebau in den Vororten ist nach den Bedürfnissen der motorisierten Gesellschaft ausgerichtet. Riesige Bau- und Supermärkte vereinen sich mit Outlet-Centern und Fastfood-Tempeln zu einer gigantischen suburbanen Betonwüste, durchzogen von breiten Straßen. Erst am Nachmittag nimmt die Hässlichkeit ein Ende und wir erreichen das ersehnte Meer. Jetzt geht es auf einem Radweg direkt am Strand entlang, fernab aller stinkenden Blechhäufen dieser Welt. Kaum haben wir ein Nachtlager gefunden, stürze ich mich in die Fluten.


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Der elfte Tag beginnt vielversprechend, die ersten Kilometer geht es weiter am Sandstrand entlang. Nach dem Frühstück verirren wir uns hoffnungslos in der Touristenhölle Cap d’Agde und brauchen den ganzen Vormittag, um aus dem Gewirr von Hotels, Schnellstraßen und Tennisplätzen wieder heraus zu finden. Auf der Schnellstraße nach Béziers stoßen wir auf einen Leidensgenossen. Der Slowene Marko radelt kreuz und quer durch Europa und schreibt darüber auch ein englischsprachiges Blog. Nach Béziers fahren wir auf einem schmalen, wurzelreichen Pfad am Canal du Midi entlang – nicht effektiv, aber schön und 100% autofrei. In Coloumbiers wechseln wir wieder auf die große Straße und heizen in einer trostlosen Landschaften mit den Lastwägen um die Wette. Zahlreiche Prostituierte stehen am Straßenrand. Auf einer Mauer prangt das Wort „innocent“, unschuldig. An diesem Tag ereignet sich die zweitschönste Geschichte der Reise (die schönste folgt ganz zum Schluss): Lust- und kraftlos kämpfe ich mich bei Gegenwind voran, der Blick auf den Boden gerichtet, mein Compagnon weit voraus. Plötzlich werde ich von einem entgegenkommenden Auto angehupt, ich hebe den Blick. Am Steuer eine hübsche junge Frau, sie winkt und lächelt. Nur darum hat sie gehupt, um mich aufzumuntern. Wie neu geboren fahre ich weiter. Vive la France, du Land der schönen, edlen Menschen.

200 to go

Tag Nummer Zwölf: Es geht in die Ausläufer der Pyrenäen. Wir müssen uns die wunderschöne Landschaft hart erarbeiten. Gegen Abend erreichen wir wieder die Küste und bauen unser Zelt direkt an den Klippen auf.

Nach einer regen- und sturmreichen Nacht und Frühstück am Strand entern wir die Küstenstraße nach Süden. Rechts die Berge, links das Meer. Punkt Zwölf über die Grenze nach Spanien, abrupt ist alles verändert. Häuser, Menschen, Landschaft, sogar die Kühe sehen hier anders aus. Nachmittags Regen. Wir hatten zehn Tage schönes Wetter, heute fällt das Wasser erbarmungslos vom Himmel. Stoisch fahren wir bis zum Abend durch. Auf der Suche nach einem Campingplatz schickt man uns auf durchweichten Wegen über die Reisfelder, ich lande fast der Länge nach im Schlamm. Stern voll Dreck und ausgepowert erreichen wir Camping El Delfin Verde. Ich esse zwei Hauptgerichte und Nachtisch.

Costa Brava

Im Morgengrauen wird der Regen von Sturm abgelöst. Als er im Laufe des Vormittags nachlässt, machen wir uns auf den Weg, die letzte Etappe steht an. Nach wenigen Kilometern treffen wir auf Andreas und Johanna. Die beiden Hamburger sind seit 18 Monaten mit den Rädern unterwegs. Ihre Reise durch vier Kontinente dokumentieren sie lesens- und sehenswert auf cycle-the-world.de. Jetzt fahren sie unsere Route in anderer Richtung, wir tauschen Ratschläge aus. Die Küstenstraße von Sant Feliu de Guíxols bis Tossa de Mar ist das schönste Stück unserer Tour, mit fantastischen Blicken auf Klippen und Meer. Danach folgt einer der hässlichsten Abschnitte, auf 60 Kilometern geht eine Hotelstadt direkt in die andere über. Um viertel nach sechs erreichen wir den Arc de Triumpf in Barcelona. Nach 14 Tagen, keiner Panne, zwei harmlosen Stürzen, 1675 Kilometern und 2062 Zebrastreifen sind wir am Ziel. Genau gleichzeitig kommen Jonathan und seine beiden Kumpels an. Die drei Iren sind aus Toulouse her geradelt. Großzügig teilen sie ihren Champagner mit uns.

Finally: Barcelona

An dieser Stelle bin ich noch die schönste Geschichte der Tour schuldig. Nach dem wir Zieleinfahrt und Champagner genossen haben, machen wir uns auf den Weg zu unserem Campingplatz, er liegt weit außerhalb der Stadt. Nach einigem planlosen Rumgekurve treffen wir an einer Ausfallstraße auf Jesus, der mit seinem Bike durch die Dämmerung kurvt. Er bietet an, uns zu führen und lotst uns tatsächlich eine Stunde lang durch Schleichwege und Nebenstraßen, die wir selbst niemals gefunden hätten. Die Sonne geht unter, der Himmel färbt sich feuerrot. Kurz vor dem Ziel verabschiedet sich unser schwarzer Ritter und verschwindet in der Nacht. Muchas Gracias, Jesus!

Gelesen (3)

Es ist immer möglich, jemanden aus dem Schlaf zu wecken, aber kein Lärm der Welt kann jemanden wecken, der nur so tut als würde er schlafen.

Jonathan Safran Foer – Tiere essen