Die Dinge, die in Reiseführern in den Top-Tipps auftauchen, die man sich also unbedingt ansehen soll, finden wir meistens ziemlich verzichtbar. Die Akropolis in Athen, das Hofbräuhaus in München, die Piazza san Marco in Venedig, das alles muss man nicht wirklich gesehen haben. Da wir ohne Reiseführer unterwegs sind weiß ich nicht genau, wie weit oben das Rockefeller Center dort gelistet wird. Defintiv ist es einer Orte, wo wirklich nur Touristen hingehen. In diesem Fall lohnt es sich aber.
An einem späten Sonntagnachmittag steigen wir in den Aufzug und jagen 67 Stockwerke nach oben. Durch die Glasscheibe an der Kabinendecke sehen wir Beton, Stahlseile und Kabel an uns vorbeiziehen. Oben gehen wir an den Souvenirständen vorbei auf die Nordterasse, lassen den Blick über Uptown und den Central Park schweifen. Auf der anderen Seite unzählige Wolkenkratzer. Empire State, Chrysler Building und im Hintergrund das One World Trade Center. Der Ersatzbau für die 2001 zerstörten Zwillingstürme ist das höchste Gebäude der Stadt: Erst im November 2014 sind die ersten Mieter eingezogen. Auf den Terrassen ist nicht viel los, wir können lange dastehen und einfach nur schauen. Auf Ebene 69 gibt es einen Balkon ohne Sicherheitsglas, wo einem richtig schön der Wind ins Gesicht bläst. Dann suchen wir uns innen einen Sitzplatz und packen Bücher aus. Nach und nach füllt sich die Plattform. Als wir zum Sonnenuntergang wieder nach draußen gehen, tobt bald ein Kampf um die Plätze in der ersten Reihe (wir schlagen uns ganz gut). Die Sonne versinkt, es wird Nacht über Manhattan. Sitzen die ganzen Banker wirklich am Schreibtisch, oder werden die Lichter in den Bürotürmen extra für uns angemacht?
Drinnen hat sich inzwischen eine gigantische Schlange an den Aufzügen nach unten gebildet. Da Anstehen nicht so unser Ding ist, suchen wir uns ein freies Fensterbrett, schauen in die Nacht und lesen. Gegen halb zehn sind die Massen verschwunden und wir fahren entspannt nach unten. Die Schwaben in uns sind happy: Das Eintrittsgeld fürs Rockefeller haben wir in fast vier Stunden ordentlich ausgenutzt.
Unser Lieblingsort in New York ist aber ein anderer. Ein paar Wochen vor Abflug hatte ich irgendwo vom “Housing Works Bookstore & Café” gelesen. Housing Works ist eine Hilfsorganisation gegen Obdachlosigkeit und AIDS. In SoHo verkaufen sie gespendete Bücher aus zweiter Hand, um Geld für ihre Arbeit zu sammeln. Vorne die Buchhandlung: Große Regale aus dunklem Holz, voll mit Romanen, Krimis, Fantasy. Wendeltreppen führen auf eine Galerie mit Reiseliteratur und Sachbüchern zu allem möglichen. Hinten gibt es guten Kaffee und supersupersupergute Muffins von sehr netten Baristas, die einem manchmal sogar was auf den Becher malen.
Während ich mich durch die Regale wühle (und drei Bücher mitnehme, mein Rucksack hat’s nicht leicht), stöbert Michi in einem Buch über Hochzeitstorten. Dort entdeckt sie eine neue Technik, mit der man Schokolade eine Holzmaserung verpassen kann. Leider braucht es dazu ein Spezialwerkzeug.
Nächster Besuch mit mehr Zeit: Michi schaut nochmal in das Tortenbuch und findet einen Hinweis auf einen Laden, in dem es das passende Werkzeug zu kaufen gibt. Da müssen wir natürlich hin. Am nächsten Tag also zur angegebenen Adresse in Midtown.
In der Straße gibt es nur ein paar Teppichhändler. Unter der angegebenen Hausnummer ist nicht mal ein Schild zu finden. Nur per Zufall treffen wir eine Frau, die im gesuchten Laden arbeitet und uns mit nach oben in den 11. Stock nimmt. J.B. Prince stellt sich als Fachgeschäft fuer Gastro-Bedarf heraus. Visitenkarten an der Wand und ein gerahmter Artikel aus der New York Times verraten, dass hier Hilton-Küchenchefs und der Chef-Patissier des Weißen Hauses einkaufen. Auf Laufkundschaft ist man nicht angewiesen. Die Zuckerbäckerin aus Europa ist jedoch sehr willkommen und kauft ordentlich ein. Ich habe damit das allerbeste Argument an der Hand, sie weiterhin in allerhand Buchläden zu schleppen.
Eine Lesestunde im 67. Stock und die Jagd nach einem Werkzeug, von dessen Existenz wir 48 Stunden vorher gar nichts wussten – das waren unsere persönlichen New York-Highlights. Was es sonst noch zu erzählen gibt:
- Auf dem Festland (nennt sich West New York, gehört aber tatsächlich zu New Jersey) zu wohnen, war ursprünglich eine finanziell-pragmatische Entscheidung. Jetzt lieben wir den Blick von dort auf die Skyline. Die Busfahrt schafft jeden Abend eine angenehme Distanz zum Wahnsinn, der in Manhattan tobt. Am nächsten Morgen tauchen wir durch den Lincoln Tunnel wieder ein und toben mit.
- New York ist die Stadt der Einzelkämpfer. Beispielhafte Szene: 100 Leute steigen aus der U-Bahn. Zwei Frauen schleppen mühsam ihre Kinderwagen die Treppe hoch. 98 stürmen links vorbei nach oben.
- Auch in Midtown Manhattan gilt das Venedig-Prinzip: Vom
MarkusplatzTimes Square zweimal abbiegen, schon ist man der einzige Mensch. Kann atmen und schauen, findet nette kleine Cafés. - New York ist unfassbar teuer. Umso toller ist der Bryant Park: Die Tische und Stühle dort gehören keinem Gastronom, sondern der Stadtverwaltung. Hier darf man einfach sitzen, ohne etwas zu konsumieren. Im Winter gab es eine Eislaufbahn, die gerade abgebaut wird. Gleich nebenan steht die New York Public Library, dessen Lesesaal wahrscheinlich der stillste Ort in ganz Manhattan ist.
- Unser Restauranttip: Joe’s Shanghai. Wir stolpern zufällig rein. Hören später aber von mehreren Seiten, es sei das beste Lokal in Chinatown. Wir werden mit sechs anderen an einen großen, runden Tisch gesetzt, haben viel Spaß und essen hervorragend.
- Lieblingsbar: The Olive Tree in SoHo. Schön schummerig, gute Getränke, gute Musik und Tische, auf denen man mit Kreide rumkritzeln darf.
- Auch wenn man keine Museen mag, sollte man sich das 9/11 Memorial ansehen. Sehr gut gemacht und sehr nahegehend. Es gibt dort Touchscreens, wo Besucher Botschaften hinterlassen können. Ein Grundschüler aus Miami krakelt mühsam „I hope that don’t happen again“ [sic] hin. Beim Durchscrollen stosse ich auf den Eintrag „Miss you daddy“. Herzzerreißend. Ich bin weiterhin kein Freund des War On Terror. Aber ich verstehe besser, wie brutal dieses Land ins Herz getroffen wurde.
- Die Überschrift „You’re my happy place“ stammt von der Brooklyn Bridge, wo sie jemand als Liebeserklärung auf’s Geländer geschrieben hat.
Natalia sagt:
Wahnsinnig toller Beitrag! :) Liest sich voll leicht und echt tolle Tipps für NYC on budget. Ich komme auf dich zurück, wenn ich mal dort bin :D Viel Spaß noch weiterhin und mehr von dem Zeug, bitte!
01. April 2015 — 20:53
Petra sagt:
Juhu, es geht weiter! :)
Es ist schön, eure persönlichen Eindrücke vermittelt zu bekommen. Und du hast absolut recht: Man braucht keine Reiseführer. Allerdings gehören manche Sehenswürdigkeiten schon dazu (z.B. Paris/Eiffelturm). Aber ihr macht das schon richtig. Bin gespannt, wie’s weitergeht!
Ach ja, das klingt nach einem neuen Blogpost: „Bücher, die ich durch Amerika geschleppt habe“ ;)
save travels
cat
01. April 2015 — 21:23
cendt sagt:
Danke euch. Mehr ist in Arbeit. @Petra: Das wird Teil des „#noam15 in Listen“-Posts!
02. April 2015 — 01:25
Ulrike Ecker sagt:
Sehr spannend, was ihr alles erlebt habt. Eindrucksvolle Bilder, besonders schön „Lesen vor gigantischer Kulisse“, der Text macht Lust auf mehr. Go on, see more and let us know!
Liebe Grüße
Ulli
02. April 2015 — 11:34
Gerhard Ecker sagt:
Lieber Chris,
N.Y. war und ist eine ganz besondere Metropole, keine typisch amerikanische Stadt, was Du sehr gut zum Ausdruck bringst, auch mit Deinen hervorragenden Fotos.
Weiterhin eine schöne Reise
Gerhard
03. April 2015 — 16:01