Words And Numbers

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Kalte Seen und heiße Quellen

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Am Ende eines langen Tages auf der Straße erreichen wir Golden, die letzte nennenswerte Ortschaft vor den Bergen, in der Dämmerung. Eine Nacht auf dem Truck Stop, unser Auto versteckt zwischen riesigen Lastwagen, um uns herum die schneebedeckten Gipfel der Rocky Mountains. Raststätten können romantische Orte sein. Morgens frägt uns ein Trucker in gebrochenem Englisch nach einem Stück Draht, um seinen Frachter wieder in Bewegung zu bringen. Wir können leider nicht helfen.

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Die kanadischen Rockies sind weiträumig als Wildnis erhalten und stehen unter Schutz, aufgeteilt in die vier Nationalparks Banff, Jasper, Yoho und Kootenay. Im Besucherzentrum des Yoho sprechen wir mit einer Rangerin über schneefreie Wandermöglichkeiten. Sie empfiehlt einen Pfad zum Hamilton Lake. Wir kaufen ein Bear Spray, das letzte Mittel im Fall einer Grizzly-Begegnung, und brechen auf.

tmp_6544-1625082481 Vom glasklaren, von Fichten umgebenen Emerald Lake führt ein steiler Pfad durch den Wald hinauf. Da wir zur Bären-Abschreckung auch noch unser ganzes Repertoire an Punk-Songs in die Wildnis brüllen, geht mir schnell die Luft aus. „Schneefrei“ muss auch irgendwie ein Missverständnis gewesen sein; bald sinken wir bei jedem zweiten Schritt hüfttief ein. Spaß macht’s trotzdem oder genau deswegen. Nach Erreichen der Baumgrenze führt der Pfad über ein Geröllfeld in einen Kessel. Von den steilen Wänden gehen grollend kleine Lawinen ab. In der Mitte des Kessels liegt der Hamiltonsee. Wo er nicht von Eis und Schnee bedeckt ist, schimmert sein Wasser in Aquamarinblau und spiegelt die umliegenden Gipfel. Beim Abstieg haben wir die richtige Technik raus und gleiten elegant über die Schneeoberfläche.

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Als wir am Tag darauf im Kootenay-Nationalpark entlang eines Flusses wandern, gehen uns die Lieder aus und wir beschreiben den Grizzlies lauthals die Zubereitung von ordentlichen Kässspatzn. Wir bekommen Appetit, die Bären scheinen von den detaillierten Ausführungen zu Zwiebeln und stinkendem Bergkäse eher abgeschreckt zu sein, jedenfalls zeigt sich keiner. Das passiert erst Tage später und hunderte Meilen weiter südlich.

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Aber zuerst müssen wir zurück in die Vereinigten Staaten. An der Grenze erfahren wir, dass Südfrüchte nicht ins Land der Freien eingeführt werden dürfen. Zwei Bananen und eine Mango essen wir vor Ort. Zwei weitere Bananen und drei (kalifornische!) Orangen – gehen an den Mann vom Duty Free Shop, zusammen mit unserem Vorrat an Feuerholz.

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Im Abendlicht fahren wir durch die Hügel und Wälder von Montana. Wir zählen innerhalb von zwei Stunden 38 Rehe, überfahren zum Glück kein einziges, sehen aber zwei am Straßenrand liegen. Über eines macht sich gerade ein Weißkopfseeadler her, wovon wir kein Foto haben, aber diese Gedächtniszeichnung von M.E.:

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Nach einem weiteren Driving Day sind wir im ältesten, berühmtesten und am meisten von Selfie-Stick-schwingenden Touris malträtierten Nationalpark der USA: Yellowstone. In Karawanen aus Wohnmobilen und Reisebussen fahren sie durch den Park, stoppen für Bisonfotos und kurze Spaziergänge an den heißen Quellen. Im heißen Wasser gefällt es bestimmten Bakterien, die den Boden in leuchtendes Rot und Gelb färben. Verständlich, dass wir den Ort mit halb Indien teilen müssen.

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Größtes Spektakel und stärkster Besuchermagnet ist Old Faithful. Der Geysier bricht relativ berechenbar alle eineinhalb Stunden aus. Nach vier Minuten ist das größte Getöse vorbei, und wie im Kino gehen die meisten Leute vor dem Abspann. Ich genieße die plötzliche Ruhe und lege mich auf eine der verwaisten Bänke. Währenddessen erlebt Michi angewandte Sozialpsychologie: Drei Mädels gehen vorbei, wirken angewidert angesichts des herumlungernden Landstreichers. Erst als M. ein Foto macht, werden die Ladys interessiert und fotografieren sich gegenseitig in der identischen Pose.

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Abends auf dem Zeltplatz erzählt unser Nachbar Bryan, Finanzer und Fotograf aus New York, dass in der Vornacht etwas gegen seine Zeltwand gedrückt habe, dazu habe er ein Schnaufen gehört. Die Ranger würden auf Grizzlybär tippen. Wir schlafen im Auto.

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Unsere Grizzly-Begegnung folgt gleich am nächsten Morgen. Gemächlich grast er am Straßenrand. Vom Fahrersitz mache ich ein paar unscharfe Bilder, bis ein vorbeifahrender Reisebus den Bär zurück in den Wald treibt.

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Für unsere ganz in der Nähe geplante Wanderung tuen wir uns sicherheitshalber mit Margie und David zusammen. Das Rentnerpaar aus Washington State ist zum zwölften Mal im Yellowstone und kennt sich mit der hiesigen Tierwelt und ihren Spuren aus. In den nächsten Stunden zeigen sie uns die Fußabdrücke und Fäkalien von Bison, Schwarzbär, Koyote, Reh und Hirsch.

Auf der Flucht vor Regen verlassen wir anschließend die Rockies. Zurück im Flachland, finden wir das wahre Ziel jedes Reisenden: Die Freiheit. Sie liegt an der Grenze von Wyoming zu Idaho und hat 214 Einwohner.

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August im Mai

Meares Island

Fast wären wir gar nicht nach Vancouver Island gefahren. Unser Meilenzähler war schon vorher strapaziert und die $160 für die Fähre reißen ein Loch in die Backpacker-Kasse. Ausschlaggebend war die Behauptung dreier Insulanerinnen, die wir zufällig trafen, bei ihnen sei es immer ein paar Grad wärmer als auf dem Festland. Dafür waren wir nach der winterlichen Kälte in den Olympic Mountains zu haben. Und die Mädels hatten recht: Es ist warm hier. So warm, dass wir gleich mehrmals hören: „Ihr habt echt Glück jetzt hier zu sein, das ist gerade wie August im Mai.“

https://youtu.be/uHp-slm2wJk

Erstmal müssen wir über die Grenze. Schon am Hafen in Anacortes bei Seattle informiert uns ein Schild, dass „einige Schusswaffen in Kanada nicht erlaubt“ seien. Schweren Herzens räumen wir unseren Ford aus und fahren deutlich leichter auf das Schiff. Der Grenzer in Sidney stellt dann allerdings nur ein paar harmlose Fragen und stempelt unsere Pässe mit Ahornblatt-Bildchen.

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Die Inselmetropole Victoria lassen wir schnell liegen und fahren in den kleinen Surfer-Ort Tofino. Der liegt auf einer Landzunge zwischen offenem Pazifik und einer ruhigen, mit kleinen bewaldeten Inseln besprenkelten Bucht. So paddeln wir an einem Tag mit Kayaks zwischen den Inselchen hindurch, während der Guide sein Wissen über Indianer, Adler und eine hier im Paradies geplante Kupfermine weitergibt.

https://youtu.be/vR3oGlGxe1U

Am nächsten Tag stürzen wir uns in eineinhalb Meter hohe Wellen. Neoprenanzüge lassen uns in 12°C kaltem Wasser auch nach drei Stunden nicht frieren. Dazu haben wir Body Boards ausgeliehen – kleine Styroporbretter für Leute, die zu weit vom Meer aufgewachsen sind um Surfen zu können. Großer Spaß mit wenig Anfängerfrust. Und nach der ersten bis zum Strand durchgerittenen Welle hat man immerhin eine kleine Ahnung vom Kick des Surfens.

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Abends entspannen wir jeweils im Whirlpool des Campingplatzes (der weniger kostet als manches kalifornische Etablissement ohne Duschen und Warmwasser).

 

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Auf dem Rückweg an die Ostküste der Insel überkommt uns die Reisemüdigkeit. Keine Lust weiterzufahren, keine Lust Neues zu sehen, Sehnsucht nach Alltag. Also bleiben wir ein paar Tage in der Kleinstadt Nanaimo hängen. Gehen ins Schwimmbad, bummeln, lesen im Café, ich arbeite einen Tag von der Bibliothek aus.

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Als wir nach drei Tagen immer noch nicht weiter wollen, der Walmart-Parkplatz als Bleibe aber langsam ungemütlich wird, ziehen wir auf die Farm von Joanne und Richard. Die beiden Althippies bauen hier Blaubeeren an, wir helfen gegen Kost & Logis ein paar Tage aus. Während Joanne hauptberuflich Bäuerin ist, verbringt Richard den Großteil seiner Tage und Nächte im Homestudio, wo er alle Arten von Musik produziert, vor allem aber die Alben seiner Tochter Hailey, die mit „More Than You Know“ vor ein paar Jahren einen ziemlichen Hit hatte. Richard hat eine Vergangenheit als Produzent von Hip-Hop im rauen Washington DC und Filmmusik in Portland. Er kann stundenlang Geschichten erzählen.

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Joanne ist ehrenamtliche Chefin von Broombusters, einem Verein zur Bekämpfung der überall auf der Insel wuchernden invasiven Pflanze Scottish Broom, die zwar hübsch blüht, aber heimische Arten verdrängt. Joanne hat sich mit missionarischem Eifer ihrer Ausrottung verschrieben und schickt uns jeden Tag mit großen Zangen an den Highway zum „Broombusten“. Ansonsten helfen wir im Garten und beim Holz. Nach Feierabend radeln wir mit unseren Kollegen aus Australien, England und Spanien zum Baden, spielen Fußball oder hören Musik. Am Sonntag nimmt uns Joanne zu einer Feuerzeremonie im buddhistischen Tempel mit. Nach einer knappen Woche Farmleben zieht es uns weiter. Auf in die Rocky Mountains!

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