Vier Millionen Tonnen Verpackungsmüll werden in Deutschland pro Jahr produziert. Ein Geschäft in Wien zeigt, dass es auch anders geht – zum Vorteil für die Kunden.

erschienen bei ZEIT ONLINE

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Uncle Ben’s, Barilla, Persil: Wer beim Einkaufen nach Reis, Nudeln oder Waschmittel sucht, findet hauptsächlich Marken. Bunte Logos prangern in großen Buchstaben auf den Kartons, Dosen und Folien. Das Produkt wird zur Nebensache; Supermarktregale sind vor allem riesige Werbeflächen.

Beim ersten Besuch wirken die Regale von „Lunzers Maß-Greißlerei“ daher irritierend leer. Die Warenauslage beschränkt sich auf zwei Regale, zwei lange Tische und eine große Theke mit Käse und Gebäck. Milchprodukte und Getränke stehen im Nebenraum. Vor allem aber werden alle Produkte ohne Verpackungen verkauft.

Eine Greißlerei ist in Österreich das, was man in Deutschland einen Tante-Emma-Laden nennt. Das Geschäft nahe des Praters in Wien besinnt sich also auf ein sehr altes Konzept, das im heutigen Einzelhandel dennoch sensationell neu wirkt. Im März erhielt das Unternehmen den Umweltpreis der Stadt Wien.

Ein radikaler Ansatz

Maß-Greißlerei-Gründerin Andrea Lunzer arbeitete früher im Marketing eines großen Discounters und beschäftigte sich dort viel mit Verpackungen. Bereits im Studium gehörten nachwachsende Rohstoffe zu Lunzers Schwerpunkten, dieses Wissen wollte sie in die Industrie tragen. „Die waren zunächst interessiert, verlangten aber nach einer schnellen Greenwashing-Lösung. Ein bisschen Bio-Plastik, und dann die grüne Flagge.“

Lunzer war das nicht genug, die 32-Jährige suchte „einen radikalen Ansatz“. Die Gelegenheit für das eigene Geschäft ergab sich zufällig, als ein Laden in ihrem Haus aufgab. Innerhalb von vier Tagen musste sie sich entscheiden. „Ich bin meinem Bauchgefühl gefolgt, viel durchgerechnet habe ich nicht.“

Lunzers Vorbild ist der „Unpackaged“-Shop in London, der bereits 2007 eröffnete und das gleiche Konzept verfolgte, bis er Anfang des Jahres schließen musste. Kürzlich hatte Lunzer wiederum drei Gründerinnen zu Besuch, die mit „Original Unverpackt“ ein ähnliches Projekt in Berlin planen und demnächst mit dem Crowdfunding beginnen möchten. Bisher fehlen aber geeignete Geschäftsräume.P1120248xe

Alle drei Unternehmen eint das Streben nach Nachhaltigkeit. Verkaufsverpackungen, vor allem aus Plastik, sind ein großes Umweltproblem. Über vier Millionen Tonnen Verpackungsmüll werden laut Statistischem Bundesamt in Deutschland pro Jahr eingesammelt. Die Herstellung der Kunststoffe verbraucht große Mengen Erdöl, Wasser und Energie.

Die Recyclingmöglichkeiten sind begrenzt, häufig werden die Plastikabfälle verbrannt oder gelangen in die Natur. Chemiekonzerne und Handelsketten setzen daher inzwischen teilweise auf Bioplastik, das etwa aus Maisstärke hergestellt wird und kompostierbar ist. Studien belegen jedoch, dass die Ökobilanz dieser Materialen nicht besser ist als die von herkömmlichem Kunststoff. Bisher löst nur Vermeidung das Plastikproblem.

Ein Nebeneffekt des verpackungsfreien Einkaufens: Die Kunden können genau die Mengen abwiegen, die sie benötigen, und müssen zu Hause weniger Reste wegwerfen.

Viele kommen ohne zu kaufen

Die Maß-Greißlerei ist inzwischen gut zwei Monate geöffnet. Gerade was frische Produkte angeht, ist das Sortiment überschaubar. Das ist gewollt: Lunzer legt Wert auf regionalen Bezug von Obst und Gemüse. Zucchini oder Tomaten sucht man Anfang April daher vergeblich. Dafür gibt es mit Mangold und Süßkartoffeln auch Sorten, die in den meisten Supermarktregalen fehlen. Alle Lebensmittel bei Lunzer sind bio-zertifiziert. Die Gründerin ist selbst auf dem elterlichen Bio-Bauernhof aufgewachsen, von wo sie nun einen Teil ihrer Waren bezieht.

Die Kundschaft der Maß-Greißlerei besteht laut Lunzer aus jungen Leuten und umweltbewussten Familien genauso wie aus „älteren Damen, die sich freuen, dass sie wieder ein einzelnes Stück Knoblauch kaufen können“. Viele Besucher würden sich alles in Ruhe ansehen, ohne zu kaufen: „Wien ist nicht New York, hier ist man sehr vorsichtig gegenüber Neuem.“ Während das verpackungsfreie Verkaufskonzept noch auf Zurückhaltung stößt, sorgt ein kleines, integriertes Café von Anfang an für Einnahmen.

Die Kunden bringen im Idealfall eigene Behälter mit, in die sie etwa Mehl, Nüsse, Gewürze und Obst füllen; bezahlt wird nach Gewicht. Alternativ liegen Papiertüten bereit. Wer möchte, kann bei Lunzer auch Vorrats- und Einmachgläser kaufen. Nur Getränke und Milchprodukte verkauft die Greißlerin in Pfandflaschen, Butter und Käse sind in Papier eingewickelt. „Überraschend viele Leute kommen mit ihren eigenen Gefäßen“, erzählt Lunzer. „Denen gehen die Verpackungen so auf die Nerven, die machen das mit Lust.“

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