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Für echte Bildungsgerechtigkeit

Seit 2005 wurden in sieben Bundesländern Studiengebühren eingeführt, inzwischen sind sie fast überall wieder abgeschafft. Nur in Bayern und Niedersachsen werden die Beiträge noch erhoben. In Niedersachsen stehen im Januar Wahlen an, ein Regierungswechsel mit anschließender Abschaffung der Gebühren ist wahrscheinlich. In Bayern steht nächstes Jahr ein Volksbegehren zum Thema ins Haus. Grund für die regierende CSU, alle bisherigen Überzeugungen über den Haufen zu werfen und dem Volk mit der Abschaffung zuvor zu kommen. Damit sind außer der verzwergten FDP alle bayerischen Parteien gegen Studiengebühren, außerdem der Gewerkschaftsbund und natürlich die Studentenvertretungen. Also quasi alle. Aber muss es deswegen richtig sein?

Fakt ist: Die Studiengebühren haben die Situation an den Hochschulen deutlich verbessert, auch wenn sie zum Teil unsinnig oder gar nicht ausgegeben werden. Es wurden zahlreiche Tutorenstellen geschaffen, um Studenten in Kleingruppen zu betreuen. Zusätzliche Kurse zur Prüfungsvorbereitung wurden ermöglicht, auch die Sachausstattung hat sich verbessert. „Ohne die Gebühren würde es hier anders aussehen“, hat mir erst kürzlich wieder ein Dozent bestätigt. Eine Abschaffung, da sind sich alle einig, macht nur Sinn mit Finanzausgleich aus dem Staatshaushalt.

Das häufigste Argument gegen Studienbeiträge ist Bildungsgerechtigkeit. Hier herrschen in Deutschland katastrophale Zustände, die das Deutsche Studentenwerk regelmäßig in einer Sozialerhebung festhält. Nur 17 Prozent der Arbeiterkinder nehmen ein Studium auf, beim Nachwuchs von Selbstständigen und Beamten sind es je über 60 Prozent. Die working class stellt  vierzig Prozent der Bevölkerung, aber nur 20 Prozent der Studienanfänger. Über ein Viertel der Bevölkerung hat keine Berufsausbildung – aus dieser Gruppe stammen nur zwei Prozent der Studenten. Über die Hälfte der Studenten hat einen Vater, der ebenfalls schon studiert hat. Wer greifbare Eindrücke lieber mag als nackte Zahlen (oder sich einfach für teure Autos begeistert), dem empfehle ich einen Spaziergang über den Parkplatz einer Universität. Höhere Bildung ist in Deutschland nach wie vor hauptsächlich eine Veranstaltung der Mittel- und Oberschicht. Unser Bildungssystem sorgt dafür, dass die viel zitierte Schere zwischen Arm und Reich weit geöffnet bleibt.

Chinesisch im Kindergarten

Aber: Das liegt nicht an den Studiengebühren. Die Selektion findet viel früher statt. Von 100 Kindern mit Akademiker-Eltern erreichen 71 Abitur – Bei Kindern mit nicht-akademischem Background schaffen das gerade mal 24.  In einem Kindergarten in Berlin-Neukölln oder Augsburg-Oberhausen muss in der Regel erstmal die deutsche Sprache vermittelt werden. Die Villa Ritz, ein Kindergarten in Potsdam, schreibt auf ihrer Homepage: „Deutsch und Englisch sind Verkehrssprachen. Chinesisch ergänzt das Fremdsprachenangebot.“ Die Schere klafft schon vor der Einschulung weit auseinander.

Die Förderung sozial schwacher Kinder ist nicht nur aus Gründen der Chancengleichheit wichtig. Deutschland kann es sich wirtschaftlich auch einfach nicht leisten, dieses Potential weiter zu verschwenden. Aber dann muss man früh damit anfangen. Mit mehr Lehrern, besseren Schulen, Ganztagsangeboten. Im Prinzip müsste man direkt bei der Ghettoisierung von Arm und Reich ansetzen. Das alles kostet Geld. Geld, dass man lieber für Geschenke ans Bildungsbürgertum einsetzt. So wie in Baden-Württemberg: Dort hat die grün-rote Landesregierung die Studiengebühren abgeschafft – und 11.600 Lehrerstellen gestrichen. Das ist absurd.

Geschenk für Wohlhabende

Man kann über eine Senkung der Studiengebühren nachdenken. Man kann die Befreiungsmöglichkeiten für sozial schwache ausbauen. Man kann Modelle diskutieren, bei denen die Gebühren erst ein paar Jahre nach der Ausbildung fällig werden, ähnlich dem BAFÖG. Die Studenten sollten stärker an der Entscheidung über die Verwendung der Mittel beteiligt werden. Vielleicht kann man Studiengebühren auch irgendwann abschaffen. Das wäre schön. Aber zur Zeit wird das Geld anderswo dringend gebraucht. Solange es Migranten und Arbeiterkinder in Deutschland nur in Ausnahmefällen zum Abitur schaffen, ist ein kostenloses Studium ein Geschenk für Wohlhabende. Oder mit den Worten von Karl Marx: „Wenn in einigen Staaten höhere Unterrichtsanstalten unentgeltlich sind, so heißt das faktisch nur, den höheren Klassen ihre Erziehungskosten aus dem allgemeinen Steuersäckel zu bestreiten.“ Der Bildungsjournalist Christian Füller schreibt in der taz: „Asta-Fritzen kämpfen im Che-Guevara-T-Shirt für ein vermeintlich kostenloses Studium. In Wahrheit aber sind sie die Vorhut reicher Ärzte-, Anwälte- und Redakteurskinder, die Papis Kohle weiter in Skiurlaube stecken wollen.“

Freie Bildung für alle ist ein schöner und richtiger Slogan. Von den vielen Hürden auf dem Weg vom Arbeiterkind zum Prof. Dr. sind Studiengebühren allerdings die niedrigste. Dieser Text ist er ist ein Plädoyer gegen Populismus und für echte Bildungsgerechtigkeit.

Update: Hier in den Kommentaren und auf Facebook wurde einige Kritik geäußert, auf die ich in einem eigenen Beitrag eingehe.

Eine neue Definition von Coolness

Es gibt ein Buch, das mich als Teenager sehr begeisterte und mein Weltbild entscheidend geprägt hat. In der Annahme, dass meine damalige Begeisterung viel mit jugendlicher Naivität zu tun hatte, habe ich das Buch kürzlich nochmal gelesen. Vielleicht bin ich immer noch naiv, aber der Text hat mich erneut begeistert und inspiriert.

Es geht um  „CULTURE JAMMING. Das Manifest der Anti-Werbung“. Kalle Lasn, der Autor, wurde in Estland geboren und lebt inzwischen in Vancouver. Er ist Begründer des Adbusters Magazine und einer der führenden Köpfe von Occupy Wallstreet. Das zentrale Thema dieses sehr wütenden Buchs ist der Konsumkapitalismus, der uns einer ständigen Gehirnwäsche namens Werbung unterzieht und den Planeten vor die Hunde bringt. So fängt es an:

„Das Buch, das Sie in der Hand halten, hat eine Mission, der Sie zunächst einmal instinktiv misstrauen werden. Die Botschaft lautet: Wir können die Welt verändern. Ein gewagtes Versprechen in unserer Zeit, denn es klingt wie ein sinnloser Werbeslogan, wie eine Platitüde aus dem „Weck den Tiger in dir“-Regal.“

Lasn beschreibt, wie die Macht der Konzerne im letzten Jahrhundert unheimliche Ausnahme erreicht hat und längst die Macht der Menschen übersteigt, die sie geschaffen haben. Er schildert die Manipulation, die omnipräsente Werbung, Sponsoring und Product Placement in unseren Gedanken erzeugt haben. Er thematisiert die Auswirkungen dieser Konsummaschinerie auf die Umwelt und auf unsere Psyche. Lasn benennt nicht nur Probleme, er ruft zum Kampf auf:

„Culture Jamming bezeichnet eine subversive kulturelle Praxis, eine Rebellion gegen die Inbesitznahme öffentlicher Räume durch Industrie und Kommerz. Culture Jamming versteht sich als Sand im Getriebe der alles verheißenden und nichts erfüllenden Werbeindustrie.“

Lasn selbst führt diesen Kampf mit seiner Adbusting Media Foundation durch professionelle Anti-Werbung: Die Symbolik der Werbung wird kopiert, aber die Bedeutung umgekehrt. Man sieht dann zum Beispiel Joe Camel, das Kamel der Camel-Werbung, umgetauft als Joe Chemo auf der Krebsstation liegen. Ein schönes Beispiel ist auch dieser Greenpeace-Spot:

CULTURE JAMMING ist eine gute Grundlage, um darüber zu diskutieren wie eine bessere Welt aussehen könnte. Ich versuche mal, den Kern des Problems aus meiner Sicht zu beschreiben.

Es gibt eine gigantische Machtverschiebung von demokratisch gewählten Regierungen zu kapitalgesteuerten Konzernen. Unter den 100 größten Wirtschaftsmächten der Erde sind 43 Unternehmen. Spätestens die Finanzkrise 2008 ff hat gezeigt, wer die Zügel in der Hand hält. Systemrelevant und alternativlos sind die Unwörter der Epoche und zeigen, dass die Staaten dem Wirtschaftsgeschehen ziemlich hilflos gegenüber stehen. Die Gipfeltreffen im Namen von G8, EU et cetera haben längst nur psychologische Bedeutung zur Beruhigung der wild gewordenen Kräfte des Marktes. Wurde bei der Mondlandung 1969 noch die Flagge der Vereinigten Staaten gehisst, stand bei Baumgartners Stratosphärensprung alles im Zeichen des Red-Bull-Logos. Wir sind inzwischen pausenlos mehr oder weniger subtilen Werbebotschaften ausgesetzt. Neben herkömmliche Werbekonzepte wie Plakattafeln und Anzeigen in Magazinen sind alle möglichen neuen Kanäle getreten, die uns beinahe pausenlos bearbeiten. Das Werbebanner auf Spiegel Online, gekaufte Beiträge auf Facebook, das auf Augenhöge angebrachte Poster über dem Pissoir, die geschickt plazierten Produkte in Skyfall, das Markenlogo auf dem Shirt deines Kumpels, das kleine Schild auf den Monitorboxen bei Rock am Ring. Keiner weiß genau, was dieses Dauerbombardement in unseren Köpfen anstellt, aber wenn es keine Wirkung hätte, würde die Wirtschaft dafür keine Milliardenbeträge ausgeben. Allein ein 30-Sekunden-Spot während der Übetragung des Super Bowl 2011 kostete drei Millionen Dollar.

Diese Manipulation für sich genommen könnte man als zwar nervig, aber nicht weiter bedrohlich ansehen. Aber: Die Aktivitäten der Konsumindustrie haben handfeste ökologische und soziale Auswirkungen. Was wir als Wirtschaftswachstum bezeichnen, ist nichts anderes als die großangelegte Vernichtung von Ökosystemen. Zur Befriedigung unseres Mobilitätsbedürfnisses veranstalten die Erdölkonzerne etwa im Nigerdelta ein ökologisches Desaster und zerstören die Lebensgrundlage der Bevölkerung. Die Rohstoffe für unsere Handys und Notebooks werden teilweise von Kindersklaven gefördert. Der Produktion der 30.000 Tonnen Fleisch, die McDonald’s allein in Deutschland jedes Jahr verbrät, fallen nach wie vor Regenwälder zum Opfer. Die mit einem ziemlich postiven Image gesegneten Hersteller von Outdoor-Kleidung verarbeiten laut einer neuen Studie eine Menge giftiger Chemikalien.

Wir werden zur Bestreitung unseres Lebens immer gewisse Güter verbrauchen. Das System des Konsumkapitalismus ist jedoch darauf ausgelegt, dass wir unseren Verbrauch maximieren, ohne Rücksicht auf die ökologischen und sozialen Folgen.

Wenn man sich mit den oben angeschnittenen und weiteren Themen beschäftigt, entwickelt man Wut. Diese Wut kann man kanalisieren und in positive Energie umwandeln, um die von den Konzernen geschaffene Kultur zu jammen. Dazu braucht es keine aufwendigen Adbusting-Kampagnen. Es gibt viele Möglichkeiten, sich der Gleichschaltung des Kaufens zu widersetzen. Anfangen könnte man zum Beispiel mit einer Demaskierung von Red Bull. Zuerst brauchen wir eine neue Definition von Coolness. Längst gibt uns die Industrie vor, was es bedeutet cool zu sein. Ich bin für Individualitität, Kreativität und Spontanität als Säulen einer neuen Coolness, die man nicht kaufen kann. Ich habe Bock auf ein bisschen Revolution. Wer ist dabei? Meldet euch.

Wir sind Idealisten, Anarchisten, Guerillataktiker, Schwindler, Witzbolde, Maschinenstürmer der Neuzeit, Nörgler und Punks. Wir sind der pöbelnde Überrest einer Gegenkultur. Was uns verbindet, ist eine grenzenlose Wut gegen den Konsumkapitalismus und das Gefühl, dass die Zeit gekommen ist, um gemeinsam zu handeln.

  • Kalle Lasn: Culture Jamming. Das Manifest der Anti-Werbung. orange press 2006
  • Klaus Werner-Lobo und Hans Weiss: Das neue Schwarzbuch Markenfirmen. Ullstein 2010
  • www.konsumpf.de
  • www.adbusters.org
  • www.greenpeace.de

Ein Prosit der Besoffenheit

Im Rettungsdienst wird ein Funkschlüssel verwendet, um Einsatzmeldungen zu codieren. „Emil-Berta“ steht für eine Entbindung, „Ärger 5“ für eine Geiselnahme. Erhält das Rettungsteam von der Leitstelle die Information „Moritz 3“, handelt es sich um eine Alkoholvergiftung. 2010 mussten mit dieser Diagnose 333.000 Patienten in deutschen Krankenhäusern stationär behandelt werden. Alkoholbedingte Erkrankungen kosteten 74.000 Menschen das Leben. Bei jedem zehnten Verkehrstoten ist Trunkenheit am Steuer die Ursache. Fast ein Drittel aller Gewaltverbrechen wird unter Alkoholeinfluss verübt. 1,3 Millionen Menschen in Deutschland sind alkoholabhängig. Fährt man nachts mit der S-Bahn durch München, kann es passieren, dass man zwischen Urin, Erbrochenem und Raufereien kaum Luft zum Atmen findet.

Exzessiver Alkoholkonsum wird dementsprechend auch immer wieder thematisiert. Unter Überschriften wie „Komasaufen als Jugendmode„, „Kampf gegen Komasaufen“ und „Zahl betrunkener Jugendlicher verdoppelt“ nehmen sich Leitmedien von BILD bis ZEIT der Problematik an. Politiker von der Kommunal- bis zur Bundesebene äußern sich regelmäßig. Die Trinkexzesse werden dabei fast ausschließlich als jugendspezifisches Phänomen diskutiert. Tatsächlich werden die ersten Erfahrungen mit Alkohol immer früher gemacht, müssen immer mehr Minderjährige mit Alkoholvergiftung behandelt werden. Doch das Problem liegt tiefer. Alkoholmissbrauch hat hierzulande viele Gesichter, er findet in allen Teilen und Schichten der Gesellschaft statt. Er ist das verbindende Element vom Obdachlosen zum Operngänger, er eint Müllmänner und Minister. Nicht selten geben sich auf Abschlussfahrten Lehrer und Schüler gemeinsam die Kante. Beim gemeinsamen Trinken werden Freundschaften geknüpft, Geschäfte eingefädelt, Ehen angebahnt. Gesoffen wird auf Volksfesten in der Provinz genauso wie bei den exklusiven Events der High Society. Die Frage ist nicht Sekt oder Selters, sondern Prosecco oder Pils; irgendwas saufen alle. Man könnte sagen: Der Suff hält die Nation zusammen.

Liegt jemand betrunken mit schmutzigen Kleidern und ungepflegten Haaren auf einer Parkbank, gilt er als asozial. Für sich genommen ist Alkoholismus jedoch gesellschaftlich akzeptiert. Wer sich schon vormittags beim Frühschoppen um den Verstand säuft, verkörpert bayerische Lebensart. Mit dem Münchner Oktoberfest steht Deutschland für ein weltbekanntes Großereignis, das allein dem Rausch gewidmet ist und Millionen Besucher anzieht. Letztes Jahr wurden allein dort, neben Unmengen Fleisch, 7,5 Millionen Liter Bier verkauft. Volksfeste, Fußballspiele, Weihnachtsmärkte, Faschingsumzüge, Hochzeiten, Konzerte, Festivals: Nahezu alle Veranstaltungen werden von einem großen Teil der Gäste vornehmlich aufgesucht, um sich zu betrinken. Die Tourismusindustrie befördert jeden Sommer Millionen Deutsche aller Altersklassen an sogenannte Urlaubsorte, deren zweifelhafter Charme nüchtern kaum auszuhalten wäre. Dort macht der Urlauber dann das, was er am besten kann und säuft sich seine Umgebung schön.

Unsere Sprache kennt kein Wort für nicht mehr durstig, stattdessen Begriffe wie Schnapsleiche, tot gesoffen und Bierschiss. Von Sankt Pauli bis Partenkirchen, von Apres-Ski bis Zehn kleine Jägermeister dominiert der Alkohol unsere Kultur und unser Leben. 83 Milliarden Liter Bier trinken wir Deutschen jedes Jahr. Das sind hundert Liter pro Kopf, dabei sind Säuglinge, Straight Edger und andere Abstinenzler nicht herausgerechnet. Wein und Schnaps kommen noch dazu.

An unseren Ampeln hängen Schilder mit der Aufschrift „Nur bei Grün – den Kindern ein Vorbild“, während sich unzählige Väter regelmäßig im Beisein ihrer Kinder voll laufen lassen. Der Politiker Otto Wiesheu fuhr, damals Generalsekretär der CSU, mit 1,8 Promille einen Menschen tot. Er wurde später in Bayern Staatsminister für Wirtschaft und Verkehr (!) und erhielt das Bundesverdienstkreuz. In Bayern finden Wahlkampfveranstaltungen häufig in Bierzelten statt; um den Applaus des alkoholisierten Publikums wird dann auch gern mal mit ausländerfeindlichen Sprüchen gerungen.

Auf jeder Party muss man sich erklären, wenn man ein Glas Wasser trinkt („Ach, musst du heute fahren?“); ballert man sich ins Delirium, ist man der Held. Wer gelegentlich einen Joint raucht, zählt zum arbeitsscheuen Gesindel, wird kriminalisiert und polizeilich verfolgt. Ein anständiger Suff dient der Brauchtumspflege.

Ich bin selbst bei diesem Thema kein Heiliger. Ich trinke auch gerne ein Glas Rotwein oder ein paar Bier. Manchmal auch eins zu viel. Aber diese geballte Sauferei immer und überall, dieser tief in der Gesellschaft verankerte Alkoholismus, bei dem so viele auf der Strecke bleiben, das widert mich mehr und mehr an. Die aktuelle Debatte über Exzesse unter Jugendlichen ist verlogen. Die Jugend bekommt es von den älteren Generationen, von Eltern, Lehrern, Medien und Politik nicht anders vorgelebt. Wenn man etwas gegen „Komasaufen“ unternehmen will, braucht man einen grundlegend anderen Umgang mit Alkohol in unserer Gesellschaft.

Phänomen Piraten

Über nichts und niemanden kann man zur Zeit in Deutschland medial mehr lesen, sehen und hören als über die Piratenpartei. Wahrscheinlich haben die ganzen Hauptstadtjournalisten einfach auch keinen Bock mehr auf Pofalla, Nahles und Trittin, auf diese von PR-Beratern professionell inszenierte Politikmaschine samt Parlamentssimulation. Klar, dass die unangepassten Neulinge erst mal spannender sind. Aber was genau verbirgt sich hinter dem Phänomen Piratenpartei?

Instinktiv sind mir die Polit-Freibeuter sehr sympathisch. Das Marketing trifft meinen Geschmack („Klarmachen zum Ändern“), viele inhaltliche Positionen halte ich für richtig: Freiheit als zentrales Thema, Bürgerrechte statt Überwachungsstaat, besseres Bildungswesen… Beim Urheberrecht bin ich anderer Meinung. Jetzt heißt es aber immer die Piraten stehen gar nicht so für Inhalte, sondern vor allem für eine neue Art Politik zu machen, für einen neuen Stil. Wie schaut der aus?

Ein wesentliches Merkmal der Piratenpartei ist die basisdemokratische Organisationsstruktur. Das klingt in der Theorie total super: Jeder fühlt sich eingebunden, es gibt keine korrupte, selbstherrliche Elite. In der Praxis ist das völliger Murks. Ich bin mit Basisdemokratie beispielsweise beim Augsburger Bildungsstreik in Berührung gekommen, war eher Sympathisant als Mitstreiter, bin aber ein paar Mal beim Plenum im besetzten Hörsaal I gewesen. Der Bildungsstreik war ganz streng basisdemokratisch organisiert. Über alles wurde abgestimmt; zuerst wurde immer abgestimmt, ob denn jetzt abgestimmt werden soll. Meistens wurde dann beschlossen nicht abzustimmen sondern erst noch ein bisschen weiter zu diskutieren. Nur wird die Debattiererei ziemlich schnell ziemlich anstrengend. Man braucht verdammt viel Zeit und Elan, um diesen Mammutsitzungen regelmäßig beizuwohnen. Jetzt müssen die Piraten natürlich nicht den ganzen Tag in einem fensterlosen Hörsaal mit uringelber Innenausstattung sitzen, aber das Prinzip ist das gleiche. Nach meiner Erfahrung ziehen sich also die meisten Leute, verständlicherweise, recht bald aus solchen Gremien zurück – übrig bleibt ein paar Freaks mit oftmals radikalen Ansichten, die nicht repräsentativ sind. Die Basis in der Basisdemokratie sind halt nicht alle, sondern alle die genug Zeit, Energie und Gelegenheit für endlose Diskussionen haben. Ich glaube dass Wahlen und Parlamente letztendlich besser geeignet sind, demokratische Mitbestimmung zu ermöglichen.

Der neue politische Geschäftsführer der Piratenpartei, Johannes Ponader, hat am Tag seiner Wahl in der ARD gesagt, seine Meinung sei genauso wichtig wie die jedes anderen Parteimitglieds. Der ehemalige Parteivorsitzende Sebastian Nerz wurde während seiner Amtszeit von Parteikollegen massiv attackiert, weil er in der Öffentlichkeit seine eigene Meinung vertreten hat. Beides zeugt von einem Verständnis von Führung, mit dem ich nichts anfangen kann. Es ist nicht nur unpraktisch bis unmöglich, immer zu allem die Parteibasis zu befragen, ich halte es auch für verkehrt. Ich finde, wer Verantwortung übernimmt braucht Entscheidungsspielräume. Wer eine Führungsposition innehat muss nach seiner Überzeugung handeln, auch wenn diese nicht der Mehrheitsmeinung entspricht, schließlich steht er auch für die Konsequenzen in der Verantwortung.

Womit sich die Piraten tatsächlich positiv von den etablierten Parteien abheben: Sie bemühen sich um eine klare, ehrliche Kommunikation. Sie kommen wunderbar ohne wichtig klingende, aber nichtssagende Politikersätze aus und sprechen eine volksnahe Sprache. Das zieht sich auch durch ihr optisches Erscheinungsbild, man fühlt sich an Joschka Fischers Turnschuhauftritt im hessischen Landtag erinnert. Sascha Lobo spricht von „Protest gegen die ritualisierte Künstlichkeit der Politik“, womit er es wieder mal ziemlich gut auf den Punkt bringt.

Heute Abend wird sie dieser Protest wohl in den dritten deutschen Landtag bringen, ein Ende der Erfolgswelle ist vorerst nicht absehbar. Ein Stück weit werden sie sich den Regeln und Ritualen des Establishments anpassen. Aber vielleicht wird auch das Establishment ein bisschen wilder und piratiger. 

Kony 2012: Die Jagd nach dem bösen schwarzen Mann

Seit Dienstag kursiert unter meinen Facebook-Freunden das Video der Kampagne „Kony 2012“ der amerikanischen NGO Invisible Children. Weltweit brachte es Kony 2012 auf fast 60 Millionen Views in den ersten vier Tagen.

Joseph Kony ist der Anführer der ugandischen Rebellenorganisation Lord’s Resistance Army (LRA), die seit 25 Jahren in Zentralafrika aktiv ist. Die Bande entführt Kinder um sie als Kindersoldaten und Sexsklaven einzusetzen. Die UNO bezeichnete sie 2005 als „wohl brutalste Rebellengruppe der Welt“.

Im Video wird der kleine Sohn des Regisseurs in die Problematik eingeführt. Er lernt Joseph Kony kennen als „the bad guy“, den es zu bekämpfen gilt, damit Papa dem Kleinen eine bessere Welt hinterlassen kann.

Ist es wirklich so einfach?

Erklärtes Ziel der Kampagne ist es, Kony berühmt wie einen Popstar zu machen und in der (amerikanischen) Öffentlichkeit Druck aufzubauen. Justin Bieber, Rihanna und Bill Gates gehören bereits zu den Unterstützern. Die US-Regierung soll zur Fortführung einer Operation gebracht werden, in deren Rahmen seit Oktober 2011 hundert amerikanische Soldaten der ugandischen Armee bei der Jagd nach Kony helfen. Dazu werden Spenden gesammelt, es wird zum Kleben von Plakaten mit Konys Konterfei aufgefordert.

Man versucht seit 25 Jahren, diesen Kerl zu verhaften – auch immer wieder mit amerikanischer Hilfe. Bisher vergeblich. Dafür hat die Armee von Uganda in der Zwischenzeit selbst eine ordentliche Palette an Menschenrechtsverletzungen angehäuft. Die südafrikanische Zeitung Daily Maverick berichtet von Vergewaltigung, Folter, Massenerschießungen – und dem Einsatz von Kindersoldaten. Die politischen Verhältnisse in Zentralafrika sind kompliziert, es ist nicht leicht „gut“ und „böse“ klar zu unterscheiden. Seit 2006 hat sich die LRA aus Uganda zurückgezogen und operiert nun in der Demokratischen Republik Kongo und dem Südsudan. Laut einem aktuellen Bericht der UN ist die Truppe auf etwa 200 Kämpfer geschrumpft. In Uganda kehren die Leute auf ihre Felder zurück. Die Direktorin einer örtlichen Hilfsorganisation wünscht sich statt der Jagd auf Kony Hilfe beim Wiederaufbau. Auch der aus Uganda stammende Blogger Musa Okwonga kritisiert, dass bestehende lokale Projekte im Film keine Beachtung finden.

Im Osten Kongos gibt es große Coltanvorkommen. Coltan ist ein Erz, dessen Bestandteil Tantal für die Herstellung winziger Kondensatoren verwendet wird, die beispielsweise in Handys und Laptops verbaut werden. Die Minen werden häufig von Rebellengruppen kontrolliert, die dort unter katastrophalen Bedingungen Kinder arbeiten lassen. Über Umwege wird das Tantal an die großen Chemie- und Elektronikkonzerne geliefert. Mit dem Kauf eures nächsten Smartphones lauft ihr also Gefahr, afrikanische Rebellen zu finanzieren.

Mit einer Spende an Invisible Children finanziert ihr dagegen hauptsächlich deren Verwaltung und Marketing. Nur 32% der Spenden landen in Uganda, die Organisation steht wegen intransparenter Mittelverwendung in der Kritik.

Bringt Kony 2012 also mehr Schaden als Nutzen? Bei aller Kritik: Der gut produzierte Film mit dem süßen blonden Jungen hat das Thema publik gemacht. Sechzig Millionen Views sprechen für sich, weltweit berichten Medien über die Problematik. Auch ich hätte ohne das Video nicht Stunden zur LRA recherchiert und diesen Text geschrieben. Aber für eine bessere Welt ist leider mehr nötig als das Teilen eines Videos auf Facebook.

Budapest.

Bandausflug nach Ungarn. Die Stadt ist schön, aber auch schmutzig und arm. Meinem Eindruck nach herrscht seit längerem Stillstand, was Architektur und Stadtentwicklung angeht. Auf jeden Fall aber eine Reise wert. Hauptsehenswürdigkeit ist für mich die Donau samt der vielen Brücken. Von der Reise gibt es auch ein kleines Tagebuch auf der Plan B Facebookseite.