„Dieses geistig-körperliche Versumpfen, dieses Fettwerden unten und oben, ist es das, wofür wir leben?“
Andreas Altmann – Im Land der Regenbogenschlange
Words And Numbers
„Dieses geistig-körperliche Versumpfen, dieses Fettwerden unten und oben, ist es das, wofür wir leben?“
Andreas Altmann – Im Land der Regenbogenschlange
Eine Webzwonull-Erfolgsgeschichte
Ich wurde letztens von zwei Soziologie-Studentinnnen zum Thema Soziale Medien interviewt. Im Laufe des Gesprächs ist mir eine schöne Geschichte wieder eingefallen, die schon ein paar Jahre her ist. Eine Webzwonull-Erfolgsgeschichte. Die möchte ich hier erzählen. Auch, um den Schreckensmeldungen von eskalierenden „Facebook-Partys“ nicht gänzlich das Feld zu überlassen.
Am 17. Oktober 2009 gründete der Australier Danny Cameron die Facebook-Gruppe „Needle In A Haystack“, Nadel im Heuhaufen. Danny war einige Wochen zuvor durch Europa gereist und hatte in Mykonos, Griechenland, eine Digitalkamera gefunden, „full with someone’s memories“. Als Weltenbummler wusste wohl Danny wohl, welche Bedeutung solche Bilder für den Besitzer haben können. Also machte er sich am nächsten Tag in Mykonos zu Fuß auf die Suche – ohne Erfolg.
Die Geschichte lies Danny keine Ruhe. Nach Australien zurückgekehrt, beschloss er, die Möglichkeiten des Internets zu nutzen, um Kamera und Fotograf zusammen zu bringen. Er gründete „Needle In A Haystack“ und lud einige Fotos hoch, auf denen die abgebildeten Personen gut zu erkennen waren. Die Suche nach der Nadel im globalen virtuellen Heuhaufen konnte beginnen. Am nächsten Tag hatte die Gruppe 60 Mitglieder, eine Woche später waren es schon 1200, 120 000 am Ende des Monats. Am 2. November, nach 17 Tagen, waren 235 000 Facebook-User an der Jagd beteiligt. In der Mathematik nennt man das exponentielles Wachstum.
Am 3. November erreichte Danny eine Nachricht aus einem Londoner Büro. Die Briten hatten eine Gruppe von Leute auf den Fotos erkannt. Einer davon, ein Franzose, stellte sich als Besitzer der Kamera heraus. Die Nadel war gefunden.
Danny postete auf Facebook: „Wir können die Gruppe jetzt alle verlassen, hier gibt es nichts mehr zu sehen. Lasst die Korken knallen!“.
Diese Geschichte handelt nicht von irgendeiner Digitalkamera und auch nicht von einer SD-Karte mit unscharfen Fotos einer Strandparty. Diese Geschichte handelt erstens von Hilfsbereitschaft und zweitens von den Chancen sozialer Netzwerke. Danny Cameron ist für mich ein Held: Er bewies Edelmut und Weitblick. Schon vor Jahren hat er die ungeheuren Möglichkeiten von Portalen wie Facebook erkannt und diese gewinnbringend genutzt. Gewinnbringend im gesellschaftlichen, nicht im ökonomischen Sinn. Ökonomisch wäre wohl der Kauf einer neuen Kamera lukrativer gewesen.
Was für eine verrückte Geschichte. Mit Unterstützung kalifornischer Nerds wächst die Welt zusammen. 235 000 Menschen steuern je einen Klick bei, damit einer seine Urlaubsfotos wieder bekommt.
Gegen die Abschiebung von Farhad Sidiqi
Eine kurze Bitte: Bitte seht diese Petition an, tragt euch ein und verbreitet den Link. Der Umgang mit Flüchtlingen in diesem Land ist eine Schande. Mehr Infos im Blog des Grandhotel Cosmopolis.
Ich hatte gestern die Gelegenheit, im Rahmen einer Führung das Projekt „Grandhotel Cosmopolis“ im Augsburger Domviertel näher kennen zu lernen. Die Einrichtung möchte an die Tradition der Grandhotels im 19. Jahrhundert anknüpfen und eine Begegnug von Fremden und Einheimischen unter einem Dach ermöglichen. Das siebenstöckige Gebäude, ein ehemaliges Altenheim, soll später eine Flüchtlingsunterkunft, ein Hostel, Künsterateliers, eine Bar und ein Restaurant beherbergen. Ein ehrenamtliches Team steckt irre viel Engagement und Know-How in das Haus. Ich war beeindruckt!
Über nichts und niemanden kann man zur Zeit in Deutschland medial mehr lesen, sehen und hören als über die Piratenpartei. Wahrscheinlich haben die ganzen Hauptstadtjournalisten einfach auch keinen Bock mehr auf Pofalla, Nahles und Trittin, auf diese von PR-Beratern professionell inszenierte Politikmaschine samt Parlamentssimulation. Klar, dass die unangepassten Neulinge erst mal spannender sind. Aber was genau verbirgt sich hinter dem Phänomen Piratenpartei?
Instinktiv sind mir die Polit-Freibeuter sehr sympathisch. Das Marketing trifft meinen Geschmack („Klarmachen zum Ändern“), viele inhaltliche Positionen halte ich für richtig: Freiheit als zentrales Thema, Bürgerrechte statt Überwachungsstaat, besseres Bildungswesen… Beim Urheberrecht bin ich anderer Meinung. Jetzt heißt es aber immer die Piraten stehen gar nicht so für Inhalte, sondern vor allem für eine neue Art Politik zu machen, für einen neuen Stil. Wie schaut der aus?
Ein wesentliches Merkmal der Piratenpartei ist die basisdemokratische Organisationsstruktur. Das klingt in der Theorie total super: Jeder fühlt sich eingebunden, es gibt keine korrupte, selbstherrliche Elite. In der Praxis ist das völliger Murks. Ich bin mit Basisdemokratie beispielsweise beim Augsburger Bildungsstreik in Berührung gekommen, war eher Sympathisant als Mitstreiter, bin aber ein paar Mal beim Plenum im besetzten Hörsaal I gewesen. Der Bildungsstreik war ganz streng basisdemokratisch organisiert. Über alles wurde abgestimmt; zuerst wurde immer abgestimmt, ob denn jetzt abgestimmt werden soll. Meistens wurde dann beschlossen nicht abzustimmen sondern erst noch ein bisschen weiter zu diskutieren. Nur wird die Debattiererei ziemlich schnell ziemlich anstrengend. Man braucht verdammt viel Zeit und Elan, um diesen Mammutsitzungen regelmäßig beizuwohnen. Jetzt müssen die Piraten natürlich nicht den ganzen Tag in einem fensterlosen Hörsaal mit uringelber Innenausstattung sitzen, aber das Prinzip ist das gleiche. Nach meiner Erfahrung ziehen sich also die meisten Leute, verständlicherweise, recht bald aus solchen Gremien zurück – übrig bleibt ein paar Freaks mit oftmals radikalen Ansichten, die nicht repräsentativ sind. Die Basis in der Basisdemokratie sind halt nicht alle, sondern alle die genug Zeit, Energie und Gelegenheit für endlose Diskussionen haben. Ich glaube dass Wahlen und Parlamente letztendlich besser geeignet sind, demokratische Mitbestimmung zu ermöglichen.
Der neue politische Geschäftsführer der Piratenpartei, Johannes Ponader, hat am Tag seiner Wahl in der ARD gesagt, seine Meinung sei genauso wichtig wie die jedes anderen Parteimitglieds. Der ehemalige Parteivorsitzende Sebastian Nerz wurde während seiner Amtszeit von Parteikollegen massiv attackiert, weil er in der Öffentlichkeit seine eigene Meinung vertreten hat. Beides zeugt von einem Verständnis von Führung, mit dem ich nichts anfangen kann. Es ist nicht nur unpraktisch bis unmöglich, immer zu allem die Parteibasis zu befragen, ich halte es auch für verkehrt. Ich finde, wer Verantwortung übernimmt braucht Entscheidungsspielräume. Wer eine Führungsposition innehat muss nach seiner Überzeugung handeln, auch wenn diese nicht der Mehrheitsmeinung entspricht, schließlich steht er auch für die Konsequenzen in der Verantwortung.
Womit sich die Piraten tatsächlich positiv von den etablierten Parteien abheben: Sie bemühen sich um eine klare, ehrliche Kommunikation. Sie kommen wunderbar ohne wichtig klingende, aber nichtssagende Politikersätze aus und sprechen eine volksnahe Sprache. Das zieht sich auch durch ihr optisches Erscheinungsbild, man fühlt sich an Joschka Fischers Turnschuhauftritt im hessischen Landtag erinnert. Sascha Lobo spricht von „Protest gegen die ritualisierte Künstlichkeit der Politik“, womit er es wieder mal ziemlich gut auf den Punkt bringt.
Heute Abend wird sie dieser Protest wohl in den dritten deutschen Landtag bringen, ein Ende der Erfolgswelle ist vorerst nicht absehbar. Ein Stück weit werden sie sich den Regeln und Ritualen des Establishments anpassen. Aber vielleicht wird auch das Establishment ein bisschen wilder und piratiger.
Ich sitze in einer Studenten-WG in Bari, trinke Bier und kann mein Glück kaum fassen. Okay, ich habe letzte Nacht kaum geschlafen und kann mir jetzt ungefähr vorstellen, wie sich Angela Merkel nach einem durchschnittlichen Griechenland-Italien-Spanien-Europa-Weltrettungsgipfel fühlt. Okay, ich habe seit zwei Tagen nicht geduscht, dafür ausgiebig Schweiß abgesondert und Straßendreck aufgenommen und stinke wahrscheinlich wie ein auf einer Bohrinsel gestrandetes Walross. Okay, ich habe seit vier Tagen keine anständige Mahlzeit mehr gegessen und hätte rein gewichtsmäßig inzwischen gute Chancen bei GNTM ins Finale zu kommen.
Aber hey, ich bin in Bari. Bari liegt 270 km, eine lächerliche Distanz, von Neapel entfernt, wo wir uns gestern vormittag auf den Weg machten. In der Zwischenzeit haben wir unzählige Stunden auf Raststätten und Autobahnauffahrten verbracht. Wir haben geschätzte siebzehntausend Mal unsere Daumen in den Wind gehalten. Wir haben auf dem Boden eines Rasthauses übernachtet, in einer Nische neben der Tür. Wir sind drei Stunden zum nächsten Autogrill gelaufen und wurden dann nicht reingelassen. Wir wurden Zeugen von Drogenkonsum am Steuer. Wir wurden zweimal von der Polizei verjagt, beide Male mit Blaulicht, beim zweiten Mal mit Sirene. Kurz: Es lief verdammt beschissen für uns.

Stuck in the middle of nowhere – (c) Sebastian Endt
Klar, Autostop liegt nicht gerade im Trend, klar haben manche Leute Angst, klar hat man nicht immer Bock wildfremde Menschen im Fahrzeug zu haben. Wartezeiten und Frust waren einkalkuliert. Aber die Gleichgültigkeit, Arroganz und manchmal Schadenfreude, die uns an diesen beiden Tagen entgegenschlug, war brutal. Für uns war das ein Abenteuer, ein Experiment, zeitlich begrenzt und trotz allem sowas wie Urlaub. Wie fühlt es sich an, wenn man diesen Blicken, dieser Verachtung täglich ausgesetzt ist, als echter Landstreicher, als Obdachloser?
Nach zwei Tagen waren wir unserem Ziel kaum näher gekommen und gaben auf. Wir saßen auf der Piazza in einem Nest namens Grottaminarda und warteten auf den Bus zurück nach Neapel. Zum Glück hatte der verdammte Bus eine halbe Stunde Verspätung. Sonst hätten wir den anderen Bus verpasst, von dessen Existenz wir nichts wussten und der gerade aus Rom kam. Und weiter fuhr nach: Bari.
Der immer sehr lesenswerte Sascha Lobo hat ein ganz nettes sehr lesenswertes Plädoyer für das Betreiben eines eigenen Blogs in Zeiten von Social Media geschrieben. Dann lasst uns mal die Blogkultur wiederbeleben.
Ein weiterer Vorzug des Backpackerlebens: Man ist immer nur ein paar Tage in der gleichen Stadt und braucht sich daher nicht allzu viele Gedanken darüber machen, ob sein Tanzstil auf allgemeine Zustimmung stößt ;)
Zwischen Neapel und Bari lagen zwei ziemlich abgefahrene Tage on the road, deren Geschichte ich noch aufschreiben will. Stay tuned…
Wir sitzen in einem schwarzen Geländewagen und fahren auf der Stadtautobahn durch die Vororte von Neapel. Vor uns liegt der Vesuv in Wolken verhüllt. Links und rechts sehen wir halb verfallene Fabriken, nie vollendete Betonskelette, baufällige Wohnblocks. Dann mitten im Schutt ein glitzernder Solarpark. Der Schweizer am Steuer fährt versehentlich über zwei rote Ampeln, indem er seinen Vordermännern folgt. Auf der Rückbank liegt eine Zeitschrift über „Unternehmenspraxis und Geldanlage“. Wir steigen direkt am Meer aus, die Sonne kommt hinter den Wolken hervor.
Am nächsten Tag erkunden wir den neapolitanischen Wahnsinn zu Fuß. In einer Osterprozession tanzt das ganze Viertel um einen lebensgroßen Plastikjesus. Auf jeder Piazza bolzende Jungs mit roten Plastikbällen. Mofafahrer brettern blind und hupend um die Ecken. Wäscheleinen quer über die Gassen, Straßenhändler und Bettler überall. Das ganze Chaos ist mit Worten schwer zu beschreiben. Abends treffen wir im Vorort Portici auf Vincenzo. Vincenzo ist etwa 70 und hat über 40 Jahre als Gastarbeiter in Deutschland gearbeitet. Er führt uns eineinhalb Stunden durch die Gegend, erzählt und schimpft. Vor allem schimpft er. In Italien ist alles Mist. Bauqualität, Zahnersatz, Medikamentenpreise, die Männer (die mit der Emanzipation nicht klarkommen und ihre Frauen ermorden), Mordaufklärung, Arbeitsmoral und Effizienz, Schweißnähte, Verzinkungen, der Zustand der Straßen… Alles „eine Scheiße“. Immer wieder bleibt er stehen (sonst geht er sehr langsam), holt tief Luft und ruft: „Es ist eine Scheiße!“ Zur Veranschaulichung zeigt er uns ein Grundstück. Laut Bautafel wird dort eine Forschungseinrichtung der EU errichtet, geplante Bauzeit: 2000-2006. Bisheriger Baufortschritt: Null. Wegen Klima und Landschaft bereut Vincenzo trotzdem nicht, zurückgekommen zu sein.
Wie viele Städte ist Florenz nachts am schönsten. Wenn sich die Touristenhorden ins Grandhotel zurückgezogen haben, kann man gemütlich mit einem bierra am Ufer des Arno sitzen und die Lichter der Stadt auf sich wirken lassen. Dreh- und Angelpunkt unserer nächtlichen Streifzüge ist il ponte vecchio. Wie Claudio erzählte, hat die Wehrmacht auf ihrem Rückzug alle Brücken in Florenz gesprengt. Nur an der ponte vecchio wurde zur Abwechslung nachgedacht und beschlossen, dieses Juwel zu verschonen. Morgen früh wollen wir wieder auf die Straße und weiter Richtung Neapel. Ich freue mich auf neue Begegnungen wie die mit Fabio, der als Handlungsreisender in Werbekugelschreiber macht und sich mit uns Physikstudenten intensiv über Teilchenphysik und die Zukunft der Energieversorgung ausgetauscht hat. Mal sehen, wen wir für uns gewinnen können mit Vaganbundencharme und dem Satz: >Potremmo andare con vi?<