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Gehört (1)

Es ist besser für das was man ist gehasst, als für das was man nicht ist geliebt zu werden

Kettcar – Stockhausen, Bill Gates und ich

Ursprünglich stammt das Zitat vermutlich von einem gewissen André Gide. Vielleicht auch von jemand anders, jedenfalls nicht von Kettcar.

Ich will mein Internet zurück

Facebook nutzt seine Marktmacht und bestimmt zunehmend, welche Inhalte wir sehen. Ein Aufruf zur Rückeroberung

Hey, schön dass du da bist. Komm doch rein, Schuhe kannst anlassen. Ich hoffe du hast gut hergefunden. Wie bist du denn da, zu Fuß? Nein? Ach, verstehe, ein Link auf Facebook hat dich hergebracht. Egal, nimm erstmal nen Keks, Kaffee kommt gleich.

Als ich 2007 auf einer USA-Reise meinen Facebook-Account erstellt habe, war das in good old europe noch eine Randerscheinung. Hier waren wir damals noch auf Myspace und StudiVZ unterwegs. Inzwischen gibt es in Deutschland 25 Millionen Facebook-Mitglieder. Weltweit wurde im September die Marke von einer Milliarde Usern überschritten. Der Like-Button wurde seit seiner Einführung 2009 über eine Billiarde Mal gedrückt. Sowohl welt- als auch deutschlandweit ist Facebook die zweitpopulärste Website überhaupt, nur Google wird öfter aufgerufen. Facebook ist absoluter Standard. Die Begriffe Soziales Netzwerk und Facebook sind nahezu synomym. Der kalifornische Konzern hat quasi ein Monopol auf unsere virtuelle Kommunikation.

Das Teil ist einfach ungeheuer praktisch. Informationen, Ideen und Links, auf die man sonst vielleicht nie gestoßen wäre, verbreiten sich weltweit. Entfernungen spielen keine Rolle, der Traum von grenzenloser Kommunikation wird wahr. Von amüsantem Nonsense bis zu politischen Grundsatzdebatten findet alles seinen Platz. Ich bin mir sicher, dass ich den Kontakt zu vielen Freunden schon verloren hätte, wenn man nicht über Facebook so gut in touch bleiben könnte. Außerdem würde ohne das Verlinken auf Facebook kein Mensch meinen Blog lesen. Konzerte lassen sich über die Event-Funktion auch leichter organisieren. Klar könnte man das alles auch irgendwie anders machen, über E-Mail, Foren oder was auch immer. Vielleicht sogar offline. Aber es wäre nicht so einfach, effizient und elegant. Erinnert sich noch jemand, wie umständlich und nervtötend die Konkurenzprodukte zu bedienen waren? Myspace ist mit gutem Grund in der Versenkung verschwunden. Und Erscheinungen wie StudiVZ oder, noch schlimmer, Lokalisten haben mit ihrem auf Deutschland begrenzten Konzept von vornherein alles falsch gemacht. Facebook hat sich zu Recht durchgesetzt.

Aber.

Spätestens seit dem Börsengang müssen die Jungs ihren Profit steigern. Dafür ist ein Unternehmen schließlich da. „Facebook ist und bleibt kostenlos“, dieses Versprechen wird auf der Startseite gegeben. Es gilt allerdings nur noch mit Einschränkungen.

Wer mit seinen Posts zur Zielgruppe durchdringen will, wird inzwischen zur Kasse gebeten. Für Fünf Euro und einen Cent kann man seine Beiträge „hervorheben“, sie werden dann bevorzugt angezeigt. Im Umkehrschluss: Posts, für die nicht bezahlt wird, sind im Nachteil, wandern im Stream nach unten oder erscheinen erst gar nicht. Die Abwicklung läuft einfach, effizient und elegant: Nach dem Klick auf den Hervorheben-Button kann man direkt seine Kreditkarten-Daten angeben.

In letzter Zeit tauchen auch immer mal wieder Beiträge in meinem Stream auf, die weder mit meinen Freunden noch den von mir abonnierten Seiten irgend etwas zu tun haben. Zum Beispiel „coole Angebote im Winter“ einer bb Products GmbH. Oder KitKat-Werbung. Facebook war nett und lieb, bis es eine globale Monopolstellung erreicht hat. Jetzt nutzt der Konzern seine Macht. Facebook gibt vor, welche Inhalte wir sehen. Und welche nicht. Das Thema Datenschutz habe ich noch komplett außen vor gelassen. Mit personalisierter Werbung, mit Hilfe der gesammelten Daten präzise auf den Benutzer abgestimmt, lässt sich richtig Geld verdienen. Die paar Euro für hervorgehobene Beiträge sind im Vergleich dazu vermutlich lächerlich. Mit Selbstbestimmung jedenfalls hat das alles nichts zu tun.

Wie kommen wir da wieder raus? Ein Ausstieg aus dem Netzwerk wäre konsequent. Mit etwas Glück und viel Mühe kann man auch danach noch ein rudimentäres Sozialleben führen. Aber das erfordert Mut – zu sehr haben wir uns bereits im blau-weißen Netz verfangen. Für den Anfang könnte man den Blick etwas mehr auf das Internet links und rechts des Facebook-Highways richten. Registriert euch bei Twitter und Google+. Die sind bestimmt nicht besser, aber immerhin wird das Monopol gebrochen. Speichert eure Lieblings-Websites in der Kopfleiste eures Browsers und surft sie auf direktem Weg an. Legt euch eine Liste mit sehens- oder lesenswerten Blogs an, und schaut zwischendurch, ob es was neues gibt. Macht selbst einen Blog auf. Surfen wir auf dem offenen Meer, statt uns von Mark Zuckerberg durch einen beheizten Pool schieben zu lassen.

Ich werde meine neuen Einträge weiterhin auf Facebook posten und auf Twitter verlinken. Alternativ habe ich einen RSS-Feed und ein Newsletter-System, das per E-Mail über neue Artikel informiert. Beides findet man rechts neben diesem Text.

Wir haben die grenzenlose Freiheit des World Wide Webs gegen die bequeme Facebook-Welt getauscht. Einfach, effizient und elegant. Keiner hat uns dazu gezwungen, wir sind alle freiwillig der Verheißung gefolgt. Facebook darf gerne ein Weg der Kommunikation bleiben, allerdings sollte es nicht der einzige sein. Holen wir uns das Internet zurück! Noch nen Keks?

Update: Johnny Häusler hat sich zum Jahreswechsel auf Spreeblick.com ebenfalls mit dem Thema auseinandergesetzt. Lesenswert!

Seine Majestät, die Plastiktüte

Heute gastiert wieder die EOFT, die European Outdoor Film Tour, in Augsburg. Dort werden verschiedene Kurzfilme im Zusammenhang mit Outdoor-Sport gezeigt, queerbeet von Kanutouren auf dem Kongo über Klettern im Yosemite bis zum Extremwandern in der Arktis. Man muss diese Veranstaltung sicher kritisch sehen, weil einige Protagonisten Wildnis mit Disneyland verwechseln und unverantworlich mit der Natur umgehen. Ich gehe trotzdem gerne hin, weil mir die Filme eine ungeheure Motivation zum eigenen Aufbruch ins Abenteuer geben. Aber für mich ist Outdoor-Begeisterung untrennbar mit Umweltbewusstsein verbunden. Wer die awesoness des Planeten zwischendurch intensiv erlebt, kann seiner Zerstörung nicht tatenlos zusehen. In diesem Zusammenhang gab es auf der EOFT 2011 einen genialen Film, der sich auf satirische Weise einem unterschätzten Problem widmet: The Majestic Plastic Bag.

Seit dem Beginn der großindustriellen Verarbeitung von Erdöl zu Kunststoffen in den 1950er Jahren ist die Weltproduktion im Schnitt um 9% pro Jahr gewachsen und lag 2009 bei 230 Millionen Tonnen. Dieses Plastik hat sich inzwischen auf die gesamte Erdoberfläche verteilt. Man findet es nicht nur im Lebensraum des Menschen, sondern auch in Wüsten und Ozeanen. Das ist nicht spektakulär und medienwirksam wie die Explosion einer Bohrinsel, aber mindestens genauso dramatisch. Bei einer großangelegten Untersuchung europäischer Strände wurden im Schnitt 540 Abfallteile auf 100m Strand gefunden. Im Nordpazfik gibt es eine gigantische Ansammlung von Abfällen, den Great Pacific Garbage Patch. 89% des Mülls besteht aus Kunststoff. Die UN geht davon aus, dass dort auf ein Kilo Plankton sechs Kilo Plastik kommen. Die verschiedenen Studien über die Ausdehnung des Müllteppichs weichen sehr stark voneinander ab. Selbst dem sehr zurückhaltenden Team von der Oregon State University ist es jedoch eine Erwähnung wert, dass „Teile des Pazfiks weitgehend frei von Plastik sind“. Sensationell: In einer Gegend irgendwo zwischen Chile und den Osterinseln haben sie sogar gar keine Kunststoffe gefunden. Der Pazifik hat eine größere Fläche als die gesamte Landmasse der Erde. Wenn es schon eine wissenschaftliche Meldung wert ist, dass wir die Meere noch nicht flächendeckend zugemüllt haben, läuft irgendwas verdammt falsch.

Plastik wird nur sehr, sehr langsam biologisch abgebaut. Unter Einwirkung von Sonnenlicht zerfällt der Müll jedoch in kleine Teile, die von Fischen, Meeressäugetieren und Seevögeln gefressen werden. Was sie dort anstellen, kann man in einem TED Talk von Captain Moore sehen. Giftige Bestandteile reichern sich über die Nahrungskette an und bedrohen auch das Raubtier Mensch an dessen Ende.

Wie kommt das Plastik ins Meer? Man nimmt an, dass etwa vier Fünftel über Flüsse eingebracht werden, der Rest stammt von Schiffen. 1992 verlor ein Containerschiff in einem Sturm vor Hongkong 29 000 Badeenten, die sich in den nächsten Jahren über alle Weltmeere verteilten. Ich war, und damit sind wir wieder bei Outdoor-Abenteuern, vor einigen Jahren in einer sehr, sehr abgelegenen Gegend von Neuseeland unterwegs, in Fiordland. Ein traumhaft schöner, nahezu unberührter Regenwald am Ende der Welt. Am siebten Tag der Tour stiegen wir auf eine Hochebene, wo wir in einen Sturm gerieten. Ich hatte meine Abfälle der ganzen Woche – vor allem die Verpackungen unzähliger Müsliriegel und Nussmischungen -außen am Rucksack befestigt. Der Sturm riss die Mülltüte weg und der Kram verteilte sich in kürzester Zeit über das ganze Tal. Der Gedanke daran verursacht mir immer noch ein Ziehen in der Magengegend.

Ein beachtlicher Teil der produzierten Kunststoffe wird immer in die Natur gelangen. Was hilft, ist Vermeidung. In der EU wird erwogen, die kostenlose Abgabe von Plastiktüten zu verbieten. In San Francisco, Los Angeles und ganz China ist das bereits geschehen. Wir müssen unser gesamtes Konsumverhalten auf hochwertige, langlebige Produkte ausrichten. Befreien wir uns von diesem ganzen unnötigen Plastikschrott.

Eine neue Definition von Coolness

Es gibt ein Buch, das mich als Teenager sehr begeisterte und mein Weltbild entscheidend geprägt hat. In der Annahme, dass meine damalige Begeisterung viel mit jugendlicher Naivität zu tun hatte, habe ich das Buch kürzlich nochmal gelesen. Vielleicht bin ich immer noch naiv, aber der Text hat mich erneut begeistert und inspiriert.

Es geht um  „CULTURE JAMMING. Das Manifest der Anti-Werbung“. Kalle Lasn, der Autor, wurde in Estland geboren und lebt inzwischen in Vancouver. Er ist Begründer des Adbusters Magazine und einer der führenden Köpfe von Occupy Wallstreet. Das zentrale Thema dieses sehr wütenden Buchs ist der Konsumkapitalismus, der uns einer ständigen Gehirnwäsche namens Werbung unterzieht und den Planeten vor die Hunde bringt. So fängt es an:

„Das Buch, das Sie in der Hand halten, hat eine Mission, der Sie zunächst einmal instinktiv misstrauen werden. Die Botschaft lautet: Wir können die Welt verändern. Ein gewagtes Versprechen in unserer Zeit, denn es klingt wie ein sinnloser Werbeslogan, wie eine Platitüde aus dem „Weck den Tiger in dir“-Regal.“

Lasn beschreibt, wie die Macht der Konzerne im letzten Jahrhundert unheimliche Ausnahme erreicht hat und längst die Macht der Menschen übersteigt, die sie geschaffen haben. Er schildert die Manipulation, die omnipräsente Werbung, Sponsoring und Product Placement in unseren Gedanken erzeugt haben. Er thematisiert die Auswirkungen dieser Konsummaschinerie auf die Umwelt und auf unsere Psyche. Lasn benennt nicht nur Probleme, er ruft zum Kampf auf:

„Culture Jamming bezeichnet eine subversive kulturelle Praxis, eine Rebellion gegen die Inbesitznahme öffentlicher Räume durch Industrie und Kommerz. Culture Jamming versteht sich als Sand im Getriebe der alles verheißenden und nichts erfüllenden Werbeindustrie.“

Lasn selbst führt diesen Kampf mit seiner Adbusting Media Foundation durch professionelle Anti-Werbung: Die Symbolik der Werbung wird kopiert, aber die Bedeutung umgekehrt. Man sieht dann zum Beispiel Joe Camel, das Kamel der Camel-Werbung, umgetauft als Joe Chemo auf der Krebsstation liegen. Ein schönes Beispiel ist auch dieser Greenpeace-Spot:

CULTURE JAMMING ist eine gute Grundlage, um darüber zu diskutieren wie eine bessere Welt aussehen könnte. Ich versuche mal, den Kern des Problems aus meiner Sicht zu beschreiben.

Es gibt eine gigantische Machtverschiebung von demokratisch gewählten Regierungen zu kapitalgesteuerten Konzernen. Unter den 100 größten Wirtschaftsmächten der Erde sind 43 Unternehmen. Spätestens die Finanzkrise 2008 ff hat gezeigt, wer die Zügel in der Hand hält. Systemrelevant und alternativlos sind die Unwörter der Epoche und zeigen, dass die Staaten dem Wirtschaftsgeschehen ziemlich hilflos gegenüber stehen. Die Gipfeltreffen im Namen von G8, EU et cetera haben längst nur psychologische Bedeutung zur Beruhigung der wild gewordenen Kräfte des Marktes. Wurde bei der Mondlandung 1969 noch die Flagge der Vereinigten Staaten gehisst, stand bei Baumgartners Stratosphärensprung alles im Zeichen des Red-Bull-Logos. Wir sind inzwischen pausenlos mehr oder weniger subtilen Werbebotschaften ausgesetzt. Neben herkömmliche Werbekonzepte wie Plakattafeln und Anzeigen in Magazinen sind alle möglichen neuen Kanäle getreten, die uns beinahe pausenlos bearbeiten. Das Werbebanner auf Spiegel Online, gekaufte Beiträge auf Facebook, das auf Augenhöge angebrachte Poster über dem Pissoir, die geschickt plazierten Produkte in Skyfall, das Markenlogo auf dem Shirt deines Kumpels, das kleine Schild auf den Monitorboxen bei Rock am Ring. Keiner weiß genau, was dieses Dauerbombardement in unseren Köpfen anstellt, aber wenn es keine Wirkung hätte, würde die Wirtschaft dafür keine Milliardenbeträge ausgeben. Allein ein 30-Sekunden-Spot während der Übetragung des Super Bowl 2011 kostete drei Millionen Dollar.

Diese Manipulation für sich genommen könnte man als zwar nervig, aber nicht weiter bedrohlich ansehen. Aber: Die Aktivitäten der Konsumindustrie haben handfeste ökologische und soziale Auswirkungen. Was wir als Wirtschaftswachstum bezeichnen, ist nichts anderes als die großangelegte Vernichtung von Ökosystemen. Zur Befriedigung unseres Mobilitätsbedürfnisses veranstalten die Erdölkonzerne etwa im Nigerdelta ein ökologisches Desaster und zerstören die Lebensgrundlage der Bevölkerung. Die Rohstoffe für unsere Handys und Notebooks werden teilweise von Kindersklaven gefördert. Der Produktion der 30.000 Tonnen Fleisch, die McDonald’s allein in Deutschland jedes Jahr verbrät, fallen nach wie vor Regenwälder zum Opfer. Die mit einem ziemlich postiven Image gesegneten Hersteller von Outdoor-Kleidung verarbeiten laut einer neuen Studie eine Menge giftiger Chemikalien.

Wir werden zur Bestreitung unseres Lebens immer gewisse Güter verbrauchen. Das System des Konsumkapitalismus ist jedoch darauf ausgelegt, dass wir unseren Verbrauch maximieren, ohne Rücksicht auf die ökologischen und sozialen Folgen.

Wenn man sich mit den oben angeschnittenen und weiteren Themen beschäftigt, entwickelt man Wut. Diese Wut kann man kanalisieren und in positive Energie umwandeln, um die von den Konzernen geschaffene Kultur zu jammen. Dazu braucht es keine aufwendigen Adbusting-Kampagnen. Es gibt viele Möglichkeiten, sich der Gleichschaltung des Kaufens zu widersetzen. Anfangen könnte man zum Beispiel mit einer Demaskierung von Red Bull. Zuerst brauchen wir eine neue Definition von Coolness. Längst gibt uns die Industrie vor, was es bedeutet cool zu sein. Ich bin für Individualitität, Kreativität und Spontanität als Säulen einer neuen Coolness, die man nicht kaufen kann. Ich habe Bock auf ein bisschen Revolution. Wer ist dabei? Meldet euch.

Wir sind Idealisten, Anarchisten, Guerillataktiker, Schwindler, Witzbolde, Maschinenstürmer der Neuzeit, Nörgler und Punks. Wir sind der pöbelnde Überrest einer Gegenkultur. Was uns verbindet, ist eine grenzenlose Wut gegen den Konsumkapitalismus und das Gefühl, dass die Zeit gekommen ist, um gemeinsam zu handeln.

  • Kalle Lasn: Culture Jamming. Das Manifest der Anti-Werbung. orange press 2006
  • Klaus Werner-Lobo und Hans Weiss: Das neue Schwarzbuch Markenfirmen. Ullstein 2010
  • www.konsumpf.de
  • www.adbusters.org
  • www.greenpeace.de

Die Jugend von Heute – eine Jugend ohne Zukunft?

Über Risiken und Nebenwirkungen einer Generation

[aus presstige #23]

Zu viel Alkohol, zu wenig Manieren. Facebook statt Fußballplatz, Porno statt Picasso. Ist die heutige Jugend schlimmer als jede zuvor? Eine Bestandsaufnahme.

Die erste Zigarette mit neun Jahren, der Vollrausch mit zwölf. Wer sich nicht gerade vom Komasaufen erholt, hängt am Smartphone, schaut Trash-TV oder erstellt Einladungen zu Facebook-Partys. Eine ganze Generation versinkt im Sumpf aus Alkohol, Drogen und ungewollten Schwangerschaften. Kein Wunder, dass der Jugend von Heute keine Zeit mehr für Werte, Anstand und Moral bleibt.

Und es wird immer schlimmer. Inzwischen sind auch die Studenten, ehemals Nachwuchs-Elite der Nation, weit vom rechten Weg abgekommen. Klar, dass bei exzessiver Feierei und unentwegtem Medienkonsum die humboldtsche (oder war es humanistische?) Bildung auf der Strecke bleibt. Professoren diagnostizieren bei ihren Studenten zunehmende Inkompetenz. So stellt Gerhard Wolf, Germanistik-Professor an der Uni Bayreuth, mangelnde Sprachkompetenz bei Erstsemestern fest. Viele Studienanfänger seien nicht in der Lage, den roten Faden eines Textes zu erkennen oder schlüssige Mitschriften aus Vorlesungen anzufertigen. Die Politik-Dozentin Christiane Florin beklagt die Unfähigkeit, alle deutschen Kanzler in der richtigen Reihenfolge aufzuzählen.* Auch mit der Nennung der drei Gewalten seien ihre Studenten überfordert. Während der Bummelstudent der Siebziger seine Bildungslücken wenigstens mit unermüdlichem Einsatz für Gerechtigkeit und Weltfrieden begründen konnte, ist es heutzutage auch mit politischem Engagement nicht mehr weit her. Um es mit den Worten der Band Kraftklub zu sagen: „ Die Welt geht vor die Hunde, Mädchen, traurig aber wahr.“

Das Ende der Welt ist nahe“

Googelt man „die Jugend von heute“, findet man jede Menge lesenswerter Zitate – Beispiel: „Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.“ Mit diesen weisen Worten hat der griechische PhilosophAristoteles um 300 vor Christus den Niedergang prophezeit. Ähnliches findet man bei Sokrates: „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“ Noch früher, bereits vor 4000 Jahren, wussten die Leute aus Ur im heutigen Irak, wo das alles hinführt: „Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe.“ Nahe ist natürlich ein dehnbarer Begriff. Aber seltsam ist es schon, dass das Ende gar so lange auf sich warten lässt. Seit 4000 Jahren richtet die Jugend die Welt zu Grunde – und kein Ende in Sicht.

 Weniger Drogen, weniger Gewalt

 Klar, manchmal kann einem schon unbehaglich werden. Etwa beim Anblick bekiffter Zwölfjähriger nachmittags am Badesee, oder angesichts der Videoaufzeichnungen von U-Bahn-Schlägern. Bilder von krassen Einzelfällen stürzen in gewaltigen medialen Flutwellen auf uns ein. Unklar bleibt: Ist die Gesamtlage objektiv schlimmer geworden, oder verschiebt sich nur unsere Wahrnehmung, weil wir zunehmend live dabei sind? Ein Blick auf die Fakten: Laut dem Drogenbericht der Bundesregierung ging der Konsum von Alkohol, Tabak und Cannabis bei Jugendlichen in den letzten zehn Jahren kontinuierlich zurück. Beispielsweise haben 15 Prozent der 12- bis 17-Jährigen im Monat vor der Befragung mindestens einmal fünf oder mehr Gläser Alkohol getrunken – nicht wirklich wenig, aber der niedrigste Wert seit dem Beginn der Statistik 2004. Auch die Jugendkriminalität nimmt seit 2004 jedes Jahr ab, wie die Statistik des Bundeskriminalamts zeigt. Die registrierte Gewaltkriminalität unter den 14- bis 21-Jährigen ging von 2007 bis 2010 um elf Prozent zurück, so der renommierte Kriminologe Christian Pfeiffer.

 Die Sorge um eine verwahrloste Jugend ist so alt wie die Menschheit. Der subjektive Eindruck, es werde immer schlimmer, hält einer Überprüfung jedoch nicht stand. Prinzipiell ist die Jugend immer ein Abbild der Gesellschaft, in die sie hinein geboren wird und in der sie aufwächst. Bei Problemen wie Alkoholmissbrauch wäre es sicher hilfreich, wenn man diese Vorbildfunktion etwas ernster nehmen würde. Dann können wir das Ende der Welt bestimmt noch ein paar Jahrtausende hinauszögern. Im Aufschieben ist die Jugend von Heute nämlich ziemlich unschlagbar.

* Richtige Antwort: Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl, Schröder, Merkel.

Der beste Platz am Pool

Was über die Deutschen gedacht wird – vom Sinn und Unsinn der Vorurteile

[aus presstige #23]

Fleißig, pünktlich und diszipliniert. Verkrampft, arrogant und geizig. Bewundert für Braukunst und Mercedes-Benz, zugleich belächelt wegen mangelndem Humor und „German Angst“. So oder ganz anders stellt man sich da draußen in der Welt den „typischen Deutschen“ vor. Was ist wirklich dran an Klischees und Stereotype? Sind sie nützliche, weil oft zutreffende Orientierungshilfen im Umgang mit fremden Kulturen oder pauschaler, diskriminierender Unsinn?

Klischees sind vorgeprägte Wendungen, die ohne individuelle Überzeugung einfach unbedacht übernommen werden“, so kann man es im Sachwörterbuch der Literatur nachlesen. Vorgeprägt, ohne Überzeugung, unbedacht übernommen – soweit klar. Aber vielleicht dennoch mit wahrem Kern? Dazu muss man zunächst in Erfahrung bringen, welche Eigenschaften den Deutschen konkret zugeschrieben werden.

Eine kurze Umfrage unter Bekannten aus verschiedenen Ländern soll Orientierung geben. Bei einer Charakterisierung stehen Stichwörtern wie ordentlich, strukturiert, förmlich im Umgang ganz oben. Weiter: Hart arbeitend, direkt und zupackend. Auch Folklore (Tracht, Bier, Blasmusik) scheint für uns Deutsche typisch zu sein. Einem Freund aus den USA ist aufgefallen, dass man in Deutschland eher einen Hund als ein Kleinkind mit ins Restaurant bringen könne. Im Internet stößt man andauernd auf die alte Geschichte mit den Badetüchern, die von deutschen Touristen schon frühmorgens auf dem Liegestuhl platziert werden, um diesen zu reservieren.

Mentalitäten schuld an Wirtschaftskrise?

Man könnte das ganze Thema für überflüssig und längst überholt halten, doch gerade in diesen Monaten ist es hochaktuell. Im Zuge der Euro-Krise wird diskutiert, ob germanische Arbeitswut auf der einen und mediterrane Disziplinlosigkeit auf der anderen Seite Schuld sind am wirtschaftlichen Nord-Süd-Gefälle in der EU. Geht es dabei um eine mehr oder weniger gelungene Regierungsführung, also um die Arbeit einiger Spitzenpolitiker – oder um Mentalitätsunterschiede in den europäischen Völkern? Wäre letzteres der Fall, so bräuchten die Krisenvölker ein bisschen mehr von den deutschen Tugenden, und es ginge wieder aufwärts. Im Gespräch mit Italienern kann man tatsächlich diesen Eindruck bekommen. Egal ob junge Akademiker, Handwerker, Geschäftsleute oder Rentner wie Vincenzo, der 40 Jahre Gastarbeiter in Deutschland war und im Ruhestand nach Neapel zurückkehrte, wo ich ihn auf der Straße traf: Alle verzweifeln am italienischen Wahnsinn, an Chaos und Unzuverlässigkeit. Und als Gegenmodell, als leuchtendes Vorbild in Sachen Ordnung und Fleiß wird immer wieder Deutschland genannt. Viele der Jüngeren liebäugeln mit einem Umzug über die Alpen, auf der Suche nach einer beruflich besseren Zukunft.

Spießertum und Tagesschau

Wären sie dann wirklich so begeistert vom deutschen Alltag? Oder enttäuscht von Hektik, Spießertum und Bordsteinen, die außerhalb der Metropolen spätestens zur Tagesschau um 20.00 Uhr hochgeklappt werden? Es gibt eben immer zwei Seiten, und dem gängigen Klischee nach kann man im Norden zwar besser arbeiten, dafür versteht man es im Süden gut zu leben.

Vielleicht sind die Unterschiede in Wahrheit gar nicht so groß. Kann man denn heutzutage überhaupt noch von nationalen Eigenheiten reden, sind sie nicht durch Vernetzung, Austauschprogramme und Einwanderung längst verblasst? Wird die nationale Identität, in der sich die Charakterzüge unserer Vorfahren spiegeln, nicht überlagert durch den Einfluss von türkischstämmigen Schulfreunden, Thailand-Reisen und amerikanischen Filmen? Wie oft gibt es ihn noch, den typischen Deutschen: Konservativ, fleißig und auf den besten Liegestuhl am Pool erpicht?

Eigentlich ist das alles großer Quatsch. Aber, und das klingt jetzt wie eine Weisheit von Lothar Matthäus: Deutschland ist nicht Italien. Natürlich gibt es nationale Eigenheiten – und darauf beruhen, verallgemeinert und zugespitzt, unsere Klischees. Würden die Leute überall gleich ticken, bräuchten wir nicht mehr verreisen, und die Welt wäre ziemlich langweilig. Mit Klischees ist es eben wie mit Lothar Matthäus: Kein Mensch braucht sie, aber ohne hätte man wesentlich weniger zu lachen. Man darf das alles einfach nicht so ernst nehmen.

Gelesen (3)

Es ist immer möglich, jemanden aus dem Schlaf zu wecken, aber kein Lärm der Welt kann jemanden wecken, der nur so tut als würde er schlafen.

Jonathan Safran Foer – Tiere essen

Ein Prosit der Besoffenheit

Im Rettungsdienst wird ein Funkschlüssel verwendet, um Einsatzmeldungen zu codieren. „Emil-Berta“ steht für eine Entbindung, „Ärger 5“ für eine Geiselnahme. Erhält das Rettungsteam von der Leitstelle die Information „Moritz 3“, handelt es sich um eine Alkoholvergiftung. 2010 mussten mit dieser Diagnose 333.000 Patienten in deutschen Krankenhäusern stationär behandelt werden. Alkoholbedingte Erkrankungen kosteten 74.000 Menschen das Leben. Bei jedem zehnten Verkehrstoten ist Trunkenheit am Steuer die Ursache. Fast ein Drittel aller Gewaltverbrechen wird unter Alkoholeinfluss verübt. 1,3 Millionen Menschen in Deutschland sind alkoholabhängig. Fährt man nachts mit der S-Bahn durch München, kann es passieren, dass man zwischen Urin, Erbrochenem und Raufereien kaum Luft zum Atmen findet.

Exzessiver Alkoholkonsum wird dementsprechend auch immer wieder thematisiert. Unter Überschriften wie „Komasaufen als Jugendmode„, „Kampf gegen Komasaufen“ und „Zahl betrunkener Jugendlicher verdoppelt“ nehmen sich Leitmedien von BILD bis ZEIT der Problematik an. Politiker von der Kommunal- bis zur Bundesebene äußern sich regelmäßig. Die Trinkexzesse werden dabei fast ausschließlich als jugendspezifisches Phänomen diskutiert. Tatsächlich werden die ersten Erfahrungen mit Alkohol immer früher gemacht, müssen immer mehr Minderjährige mit Alkoholvergiftung behandelt werden. Doch das Problem liegt tiefer. Alkoholmissbrauch hat hierzulande viele Gesichter, er findet in allen Teilen und Schichten der Gesellschaft statt. Er ist das verbindende Element vom Obdachlosen zum Operngänger, er eint Müllmänner und Minister. Nicht selten geben sich auf Abschlussfahrten Lehrer und Schüler gemeinsam die Kante. Beim gemeinsamen Trinken werden Freundschaften geknüpft, Geschäfte eingefädelt, Ehen angebahnt. Gesoffen wird auf Volksfesten in der Provinz genauso wie bei den exklusiven Events der High Society. Die Frage ist nicht Sekt oder Selters, sondern Prosecco oder Pils; irgendwas saufen alle. Man könnte sagen: Der Suff hält die Nation zusammen.

Liegt jemand betrunken mit schmutzigen Kleidern und ungepflegten Haaren auf einer Parkbank, gilt er als asozial. Für sich genommen ist Alkoholismus jedoch gesellschaftlich akzeptiert. Wer sich schon vormittags beim Frühschoppen um den Verstand säuft, verkörpert bayerische Lebensart. Mit dem Münchner Oktoberfest steht Deutschland für ein weltbekanntes Großereignis, das allein dem Rausch gewidmet ist und Millionen Besucher anzieht. Letztes Jahr wurden allein dort, neben Unmengen Fleisch, 7,5 Millionen Liter Bier verkauft. Volksfeste, Fußballspiele, Weihnachtsmärkte, Faschingsumzüge, Hochzeiten, Konzerte, Festivals: Nahezu alle Veranstaltungen werden von einem großen Teil der Gäste vornehmlich aufgesucht, um sich zu betrinken. Die Tourismusindustrie befördert jeden Sommer Millionen Deutsche aller Altersklassen an sogenannte Urlaubsorte, deren zweifelhafter Charme nüchtern kaum auszuhalten wäre. Dort macht der Urlauber dann das, was er am besten kann und säuft sich seine Umgebung schön.

Unsere Sprache kennt kein Wort für nicht mehr durstig, stattdessen Begriffe wie Schnapsleiche, tot gesoffen und Bierschiss. Von Sankt Pauli bis Partenkirchen, von Apres-Ski bis Zehn kleine Jägermeister dominiert der Alkohol unsere Kultur und unser Leben. 83 Milliarden Liter Bier trinken wir Deutschen jedes Jahr. Das sind hundert Liter pro Kopf, dabei sind Säuglinge, Straight Edger und andere Abstinenzler nicht herausgerechnet. Wein und Schnaps kommen noch dazu.

An unseren Ampeln hängen Schilder mit der Aufschrift „Nur bei Grün – den Kindern ein Vorbild“, während sich unzählige Väter regelmäßig im Beisein ihrer Kinder voll laufen lassen. Der Politiker Otto Wiesheu fuhr, damals Generalsekretär der CSU, mit 1,8 Promille einen Menschen tot. Er wurde später in Bayern Staatsminister für Wirtschaft und Verkehr (!) und erhielt das Bundesverdienstkreuz. In Bayern finden Wahlkampfveranstaltungen häufig in Bierzelten statt; um den Applaus des alkoholisierten Publikums wird dann auch gern mal mit ausländerfeindlichen Sprüchen gerungen.

Auf jeder Party muss man sich erklären, wenn man ein Glas Wasser trinkt („Ach, musst du heute fahren?“); ballert man sich ins Delirium, ist man der Held. Wer gelegentlich einen Joint raucht, zählt zum arbeitsscheuen Gesindel, wird kriminalisiert und polizeilich verfolgt. Ein anständiger Suff dient der Brauchtumspflege.

Ich bin selbst bei diesem Thema kein Heiliger. Ich trinke auch gerne ein Glas Rotwein oder ein paar Bier. Manchmal auch eins zu viel. Aber diese geballte Sauferei immer und überall, dieser tief in der Gesellschaft verankerte Alkoholismus, bei dem so viele auf der Strecke bleiben, das widert mich mehr und mehr an. Die aktuelle Debatte über Exzesse unter Jugendlichen ist verlogen. Die Jugend bekommt es von den älteren Generationen, von Eltern, Lehrern, Medien und Politik nicht anders vorgelebt. Wenn man etwas gegen „Komasaufen“ unternehmen will, braucht man einen grundlegend anderen Umgang mit Alkohol in unserer Gesellschaft.

Plötzlich auftretende Übelkeit

Ein Asia-Imbiss in meiner Stadt, abends um halb zehn. Ein Mann liegt am Boden, die Augen mit einer Gummimaske bedeckt. Ein zweiter Mann tritt mehrmals brutal auf ihn ein, geht dann zur Seite. Als sich der Maskierte mühsam zur Hälfte aufgerichtet hat, kassiert er einen Fausthieb in den Magen und sinkt wieder zu Boden. Ein Dritter kommt hinzu und springt auf seinen Oberkörper. Zu zweit gehen sie jetzt auf den Wehrlosen los, bis schließlich ein freundlicher Herr in weißem Hemd einschreitet. Ich wende mich von der Wrestling-Übertragung ab und nehme mein Abendessen entgegen. Der Appetit ist mir vergangen.

Studentenfutter mit Gourmet-Faktor

Die neue Mensa an der Uni Augsburg

Nach zwei Jahren Verköstigung im provisorischen Zelt durften wir zu Beginn des Sommersemesters die Eröffnung der neuen Mensa an der Uni Augsburg erleben. Ich bin für das Augsburger Hochschulmagazin presstige der Frage nachgegangen, ob sich das Warten gelohnt hat. Den Artikel findet ihr hier.